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Zu Hause, mitten in Europa

Ein Gespräch mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer über Familie, Geborgenheit und Heimat

27.05.22
Zu Hause, mitten in Europa

Ihr Herz schlägt zeit ihres Lebens für Rheinland-Pfalz: Malu Dreyer ist in der Pfalz aufgewachsen, hat in Mainz studiert und ist seit 2013 Ministerpräsidentin. Die SPD empfindet sie als große Familie. Foto: Imago

Frau Dreyer, was verbinden Sie mit dem Begriff Heimat?Heimat ist die Region, in der man aufwächst, die Düfte und das Umfeld kennt, wo die Menschen leben, die man liebt, wo man seine ersten Schritte macht, gute und schlechte Zeiten erlebt. Selbstmit geschlossenen Augen erkennt man die Heimat, weil man weiß, wie es dort riecht, wie es sich anfühlt. Das ist für mich Heimat. Es gibt aber auch so etwas wie das Gefühl, zu Hause zu sein. Das hat damit zu tun, dass man liebe Menschen um sich hat und sich deswegen schnell heimisch fühlt. Das muss nicht unbedingt der Ort sein, wo man aufgewachsen ist, sondern es kann ein Ort sein, an dem man auf Menschen trifft, die einem das Gefühl von Heimat, von Zuhause vermitteln. Ich glaube, dass unser wunderschönes Land ganz vielen Menschen die Möglichkeit gibt, sich bei uns zu Hause zu fühlen, weil wir hier mitten in Europa leben, weil die Menschen offen und gastfreundlich sind. Hier können Menschen ihr Bedürfnis nach einem guten Leben mit ihrer Sehnsucht nach einem vertrauten Zuhause sehr gut verbinden. Insofern kann unser Land Menschen, auch wenn sie hier nicht aufgewachsen sind, dieses Heimatgefühl bieten.

Ihre Heimat war in der Kindheit Neustadt an der Weinstraße. Welche Spuren hat das in Ihnen hinterlassen?

Mit meinem Heimatort verbinde ich das Lachen, dieses freudige, manchmal schon hemmungslose Lachen, wenn Menschen zusammen waren. Ich erinnere mich aber auch noch sehr gut an den Duft des Waldes. Wenn wir als Kinder im Herbst Esskastanien gesammelt haben, dann war der Wald erfüllt von einem besonderen Geruch. Genauso verströmt die echte Pfälzer Dampfnudel mit der Salzkruste den Duft von Heimat für mich.

Ihre politische Heimat ist eine andere als die Ihres Vaters. Er war CDU-Kreisvorsitzender. Wann haben Ihre Gespräche über Politik mit Ihrem Vater begonnen?

Wir waren eine sehr diskussionsfreudige Familie. Aber ich bin sozusagen mit der CDU aufgewachsen, denn die ganze Familie väterlicherseits, meine Onkel und Tanten waren aktive CDU-Mitglieder. Wir waren insgesamt ein sehr politischer Haushalt. Ob beim Mittagessen oder beim Abendessen: Es gab fast immer Debatten, auch gesellschaftspolitische Debatten. Da ging es aber weniger um Parteipolitik. In diesem Umfeld bin ich sozialisiert worden. Das heißt, ich habe als Kind und als Jugendliche Demokratie und sehr rege Debatten in der Familie erlebt.

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Aufgewachsen ist Malu Dreyer in der Pfalz, das Foto zeigt sie mit ihrer Schwester Elisabeth. Fotos: Malu Dreyer, Privatarchiv

Vielen Jugendlichen wird es irgendwann in ihrem Heimatort zu eng. Kennen Sie das Gefühl? War das der Grund dafür, dass Sie ein Jahr in die USA gegangen sind?

Ich habe mich sehr geborgen gefühlt in meiner Pfälzer Heimat. Ich habe aber schon früh einen Freiheitsdrang verspürt - wahrscheinlich, weil ich unterhalb des Hambacher Schlosses aufgewachsen bin, das als Wiege der deutschen Demokratie gilt. Ich wollte immer raus und die Welt kennenlernen. Also bin ich mit 16 ein Jahr in die USA gegangen. Das war damals fast wie Auswandern, aber für mich als junge Frau total wichtig. Natürlich gab es Abschiedsschmerz, zugleich war ich mir meiner Wurzeln gewiss. Das hat mir Stärke und Sicherheit gegeben.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Das Fantastische ist, dass meine Eltern das sehr unterstützt und mich nicht zurückgehalten haben. Ich kann mich noch sehr gut an den Abschied am Flughafen in Frankfurt erinnern. Mein Vater hat versucht, für alle die Fassung zu bewahren ...

Sie sind dann zum Schüleraustausch nach Kalifornien gegangen?

Ich habe in einer Gastfamilie gelebt und war auf der Highschool in der Abschlussklasse. Durch die Familie habe ich sehr viel von Amerika kennengelernt, weil wir oft gereist sind. Ich habe meiner Gastfamilie später auch Deutschland gezeigt.

Was braucht es in der Fremde, um heimisch zu werden?

Ich glaube, man braucht als junger Mensch Wurzeln, um sich frei fühlen und ausfliegen zu können. In der Fremde braucht es dann entsprechende Menschen, um sich heimisch fühlen zu können. Man braucht Neugier und Aufgeschlossenheit für andere Lebenswelten, um seinen eigenen Horizont erweitern zu können. Ich war in den USA in einer tollen Familie mit vier Töchtern. Sie haben mich sozusagen als fünfte Tochter aufgenommen. Wir haben heute noch Kontakt.

Kennen Sie das Gefühl von Heimweh?

Nur sehr begrenzt. Ich hatte nie wirklich das Gefühl von Heimweh.

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Das Studium führte sie dann nach Mainz.
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Seit der Hochzeit mit Klaus Jensen ist Trier ihre neue Heimat.

Sie wollten eigentlich Ärztin werden, haben nach Ihrer Rückkehr dann aber zunächst Anglistik und Theologie studiert, anschließend Jura in Mainz.

Medizin war eigentlich mein Traumberufsfeld. Ich habe nur deswegen das große Latinum gemacht und ein Einserabitur. Wenn ich heute gefragt werde, ob ich irgendetwas in meinem Leben anders machen würde, ist das wirklich der einzige Punkt, der mich zum Grübeln bringt. Ich weiß nicht, warum ich mich dann kurzfristig für Anglistik und Theologie entschieden habe. Wegen der schlechten Berufschancen für Lehrer damals in den 80er-Jahren haben uns aber alle empfohlen, etwas anderes zu studieren. Deshalb wechselte ich zu Jura. Ironie der Geschichte: Ich fand es dann super. Das war das perfekte Studium für mich.

Sie mögen die juristische Art des Denkens, haben Sie einmal gesagt, weil sie mit der Mathematik verwandt ist ...

Es ist tatsächlich ein sehr analytisches Denken, das kam mir entgegen – und hilft mir heute noch.

Mainz ist dann schnell zu Ihrer zweiten Heimat geworden?

Ich habe mehr als 20 Jahre in Mainz gelebt. Ich habe als junge Studentin schnell Fuß gefasst und mich politisch ganz neu orientiert. Damals habe ich auch sehr viele meiner richtig engen Freundinnen und Freunde kennengelernt. Mit ihnen bin ich noch sehr eng verbunden. Mainz ist natürlich auch eine tolle Stadt mit viel Lebensfreude und Gastfreundlichkeit. Aber am Ende sind es die Menschen, die einem das Gefühl von Verbundenheit und Heimat geben.

Inwiefern haben Sie sich damals politisch neu orientiert?

Ich war sehr aktiv bei Amnesty International und im Verein für feministische Mädchenarbeit in Mainz. Wir haben uns für Mädchen in Not engagiert, ein Mädchenhaus mit Wohngruppen aufgebaut und uns um alles, was dazugehört, gekümmert.

In die SPD eingetreten sind Sie dann ...

... relativ spät. Ich war nicht in der Partei, als ich 1995 Bürgermeisterin in Bad Kreuznach wurde. Ich war eigentlich eine Rot-Grüne, doch dann wurde mir klar, dass die soziale Gerechtigkeit mein Thema ist, die SPD meine politische Heimat - und ich bin Mitglied geworden.

Kann eine politische Partei auch eine Heimat bieten?

Ja, das finde ich schon, denn man teilt mit den Parteimitgliedern gemeinsame Werte. Viele in der SPD sind für mich wie eine große Familie, die einen im Alltag und im politischen Handeln unterstützen. Wir teilen die Einstellung zu Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit. Da muss man nichts erklären. Das ist ein bisschen wie zu Hause, dass man sich auch schon mal ohne große Worte versteht. Diese Verbundenheit mit Menschen, die ähnlich denken, kann einem eine Partei geben, finde ich.

Ist eine geistige Verbundenheit im Leben vielleicht wichtiger als eine räumliche Verbundenheit?

Beides spielt eine Rolle. Ich zum Beispiel habe in meiner ersten Heimat Neustadt eine unglaubliche Naturliebe entwickelt. Wir waren als Kinder ganz oft im Wald. Das hat mich geprägt für mein ganzes Leben. Wo finde ich Kraft außer bei meinem Mann und meiner Familie? Das ist in der Natur. Die Natur gibt mir bis zum heutigen Tag unglaublich viel.

Da kommen einem Begriffe wie „verwurzelt sein“ oder „geerdet sein“ in den Sinn ...

Sich immer wieder zu erden im wahrsten Sinne des Wortes, ist eine Grundvoraussetzung dafür, gut durchs Leben zu gehen, Höhen und Tiefen meistern zu können.

Wir erleben auch, was es mit Menschen macht, die ihre Heimat, ihre Wurzeln durch eine Katastrophe wie die Ahrflut oder den Krieg in der Ukraine verlieren.

Das ist dramatisch - und eine traumatische Situation für die Menschen. Ihnen wird das Vertraute genommen, ihr Entwicklungs- und Lebensraum geht verloren. Das Lebensumfeld, mit dem man Liebe und Wärme verbunden hat, ist plötzlich weg. Unsere Aufgabe ist es, sie nicht im Stich zu lassen, den Menschen an der Ahr schnell beim Wiederaufbau zu helfen und die Kriegsflüchtlinge offenherzig aufzunehmen.

Ihr Zuhause ist seit 2003 im Schammatdorf in Trier.

Die Liebe zu meinem Mann hat mich in das wunderschöne Trier geführt. Wir leben im Schammatdorf, einem Wohnprojekt mitten in der Stadt. Fast 300 Menschen, arm und reich, gesund und krank, mit und ohne Behinderung, jung und alt leben hier zusammen. Es ist eine besonders schöne Art zu leben, meine neue Heimat.

Wir feiern 75 Jahre Rheinland-Pfalz: Was macht dieses Bundesland aus?

Die frohe Lebensart, die schönen Landschaften, seine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung, gelebte Freundschaft zu unseren europäischen Nachbarn. Und natürlich wissen wir, dass wir Kinder des Friedens sind. Frieden, Freiheit und Zusammenhalt sind ein großes Geschenk. Das ist die Motivation für viele Menschen, sich außerordentlich stark zu engagieren und solidarisch zu sein. So leben wir in Rheinland-Pfalz Demokratie. Birgit Pielen