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Seit 75 Jahren lebensfroh und gesellig

Die frühere Sonderschullehrerin Heide Bialas aus Bassenheim wurde am 18. Mai 1947 geboren

27.05.22
Seit 75 Jahren lebensfroh und gesellig

Von ihr haben unzählige Sonderschüler in Koblenz fürs Leben gelernt: Die Förstertochter Heide Bialas aus Bassenheim feiert am 18. Mai 1947 ihren 75. Geburtstag. Foto: Jens Weber

Vor einigen Jahren bekam Heide Bialas einen Anruf von einer ehemaligen Schülerin. „Sie wollten ein Klassentreffen organisieren und mich gern dabei haben. Wir haben uns im Brauhaus in Koblenz getroffen. Es war sehr lustig. Mich haben sie alle wiedererkannt.“ Heide Bialas traf keine Ärzte, Anwälte oder Geschäftsführer. Sie begegnete Menschen wieder, von denen es einige wenige geschafft hatten, ihr Schicksal zu wenden. Alle wussten wohl, dass sie das bisschen Glück auch ihrer Klassenlehrerin von der Sonderschule II für Lernbehinderte im Koblenzer Stadtteil Neuendorf zu verdanken haben. Wenn die ehemalige Lehrerin davon erzählt, dann hört man eine Mischung aus leichtem Stolz und viel Genugtuung heraus – nach mehr als 37 aufreibenden Jahren als Lehrerin an einer Sonderschule.

Vielleicht wurde die Frau aus Bassenheim (Kreis Mayen-Koblenz) auch deshalb zum Vorbild für ihre Schüler, weil auch sie sich behaupten musste. Als Heide Bialas am 18. Mai 1947 – dem rheinland-pfälzischen Verfassungstag – im Koblenzer Stadtteil Ehrenbreitstein zur Welt kommt, ist ihr späterer Lebensweg alles andere als vorgezeichnet. Die Mutter stirbt, als die Tochter gerade sieben Jahre alt ist. Der Vater, Jahrgang 1915, Soldat an Ost- und Westfront, wird nach dem Krieg Förster des rechtsrheinischen Koblenzer Waldes, eines der größten Reviere in der Rhein-Mosel-Stadt, und nach dem Tod seiner Frau auch noch zum alleinerziehenden Vater von zwei Kindern, Sohn und Tochter. Erst vier Jahre nach dem Tod seiner Frau heiratet er wieder und bekommt einen zweiten Sohn. Eine fünfköpfige Familie – als Alleinverdiener ist das auch für einen höheren Beamten eine Herausforderung. „Mein Vater war ein sehr autoritärer Mensch“, erinnert sich Heide Bialas. Doch im Forsthaus in Koblenz-Arzheim erlebt sie eine behütete Kindheit. Auch die Wälder rund um Koblenz sind damals kaputt, doch die Ruinen des zerstörten Koblenz sind dem Försterkind eher fern.

Früh lernt sie, sich gegen ihre zwei Brüder durchzusetzen. Eine gute Schule für ihren späteren Beruf. Und sie erfährt, dass sie hart arbeiten muss, um sich ein besseres Leben zu schaffen. In den Schulferien jobbt sie in der Deinhard-Sektkellerei, um sich eine Lederjacke kaufen zu können. „Die hätte mein Vater mir nicht finanziert.“ Um ein Haar hätte sie die Schule nach der Mittleren Reife abgebrochen. „Ich wollte Geld verdienen, wollte mir wie die anderen aus der Grundschule, die bereits einen Beruf hatten, etwas leisten können.“ Doch Heide Bialas geht zur höheren Schule, macht sogar Abitur – als eines von zwei Mädchen aus der Grundschule in Arzheim. Ihr Vater fördert das, zahlt sogar Schulgeld – durchaus ungewöhnlich in einer Zeit, in der die Mittlere Reife für viele konservative Väter das höchste der Gefühle war. Eine Frau war aus Sicht vieler Eltern nicht selten für den Herd und die Ehe bestimmt.

Heide Bialas studiert sogar, wieder unterstützt von ihrem Vater, an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule (EWH), aus der später die heutige Uni Koblenz hervorgegangen ist. „Ich hatte eine sehr enge Freundin, die ich heute noch treffe. Wir haben uns gegenseitig beraten. Ich hätte eigentlich gern etwas mit Sprachen gemacht. Ich hatte eine große Sehnsucht nach dem Ausland. Aber um zum Beispiel Dolmetscherin zu werden, hätte ich meine Ausbildung auch im Ausland machen müssen. Das hätte mein Vater finanzieren müssen. Das wäre nicht gegangen.“ Und in Koblenz war die EWH eine der wenigen weiterführenden Möglichkeiten. „Berufung war es sicherlich nicht. Aber es war nicht die unpassendste Wahl.“ Ihre Freundin wird später Konrektorin in einer Schule in Mülheim-Kärlich, sie bleibt in Koblenz. „Oft waren die ersten Stellen nach dem Studium weit weg. Ich wollte aber gern in Koblenz bleiben.“ Also fragt sie beim Kulturdezernenten der Stadt nach. „Das geht“, sagt man ihr, „aber dann nur an einer Sonderschule.“ Heide Bialas ist einverstanden und bereut diese Entscheidung nie. „An der Schule hat es mir gleich sehr gut gefallen.“ Sie bleibt mehr als 37 Jahre.

In Koblenz will sie auch bleiben, weil sie dort mit 16 Jahren den Mann ihres Lebens kennenlernt. Auch wenn der Vater sie streng von „Jungs aus der Stadt“ fernhält, lässt er sie zur Tanzstunde bei Volkert in der Casinostraße gehen.

Dort lernt sie den Mann kennen, mit dem sie mittlerweile seit mehr als 50 Jahren verheiratet ist. Heide Bialas möchte nicht so gern von diesem Kennenlernen erzählen, vielleicht um den Zauber von damals nicht breitzutreten. Lieber erzählt sie nüchtern und in zurückhaltenden Andeutungen davon, wie sich die Paare damals eben oft näherkamen. „Man fand sich sympathisch. Und durch die Tanzstunde war vorgegeben, dass man sich häufiger gesehen hat. Beim nächsten Mal kannte man sich dann schon etwas besser. Irgendwann hat man sich dann verabredet.“ Im Jahr 1968 heiratete Heide Bialas mit gerade mal 21 Jahren ihren Joachim.

Die Schule schenkt ihr das, auf was sie verzichten musste: andere Kulturen, fremde Sprachen. Sie unterrichtet Menschen mit ganz unterschiedlicher Herkunft. Türken, Sinti und Roma, Deutsche aus prekären Schichten. „Ihr IQ hatte für die normale Schule nicht die richtige Höhe. Sie wurden ja alle getestet, bevor sie zu uns kamen. Aber einige waren anders begabt.“ In ihrem Wohnzimmer in Bassenheim hat Heide Bialas heute Bilder von einigen ihrer Schüler an der Wand hängen. „Das sind sehr schöne Erinnerungen. Man hat bei einigen der Schüler gemerkt, dass eine Persönlichkeitsentwicklung stattfindet. Sie merkten, dass sie unter ihresgleichen sind, dass sie gar nicht die Dümmsten waren, dass sie auch etwas können. Das stärkt eine positive Persönlichkeitsentwicklung enorm. Ich wurde vornehmlich in der Oberstufe eingesetzt. Da habe ich sehen können, wie weit es mit einigen gediehen ist, wenn sie entlassen wurden.“ Aber zu Künstlern oder Kreativen waren die wenigsten bestimmt, hat die Lehrerin über viele Jahre erfahren.

Künstler wie die Reinhardts. „Django hat als Musiker sogar Berühmtheit über Koblenz hinaus erlangt.“ An ihre ehemaligen Schüler Django, Bawo, Mike oder ihre Schwestern hat Heide Bialas lebhafte Erinnerungen. „Die Reinhardts, das war eine riesige Familie. Wenn Django ein Konzert gibt, dann kommt immer einer der Sippe vorbei, der Mike, der Bawo, die Gudi, die Michiko. Die gucken nur mal vorbei. Diese Sippenzugehörigkeit fand ich faszinierend. Eine solche Großfamilie kannte ich ja nicht. Wir waren zu fünft und mit ein paar Cousins und den Großeltern im Vergleich dazu eine kleine Familie. Diese riesige Reinhardt-Sippe dagegen ...“

Aus Heide Bialas ist viel Bewunderung zu hören, aber auch Realismus. „Das waren Leute mit Traditionen, Wertvorstellungen. Ich habe viele positive Erfahrungen mit diesen Menschen gehabt. Ich habe aber auch ihre negativen Seiten kennengelernt.“ Die Lehrerin muss es wissen. Denn sie unterrichtet die Reinhardts, die türkischen Gastarbeiterkinder, die sozial benachteiligten Deutschen nicht nur in der Schule, sondern auch bei ihnen zu Hause, teilweise auf der Straße. Auf Anregung einer Kollegin gibt Heide Bialas kostenlose Nachhilfe für die Gestrandeten, die Verlorenen der Gesellschaft.

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Eine behütete Kindheit im Koblenzer Stadtteil Arzheim: Heide Bialas als Kind. Foto: Jens WeberEine behütete Kindheit im Koblenzer Stadtteil Arzheim: Heide Bialas als Kind. Foto: Jens Weber

Darunter sind auch viele türkische Mädchen, zu denen Heide Bialas ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis entwickelt. „Die wurden schon sehr früh versprochen, verlobt und verheiratet. In der Schule haben sie dann in jeder freien Minute einen Brief geschrieben und dann in die Türkei geschickt. Ein Mädchen bat mich mal um Rat. Während der Osterferien ist sie nach Istanbul gereist. Sie sollte verlobt werden mit einem Autohändler, gar keine schlechte Partie. Aber sie hätte dort den Haushalt machen sollen, während die Mutter und Großmutter des Bräutigams die Füße hochlegen. Dann kam sie zurück und sagte zu mir: ,Frau Bialas, ich habe mich an Sie erinnert. Ich habe denen gesagt, dass ich mich nicht so früh festlegen will. Und hier kann ich mich anziehen, wie ich will, muss kein Kopftuch tragen. Ich habe die Verlobung platzen lassen.'“

Einige ihrer Schüler, erinnert sich Heide Bialas, haben nach der Sonderschule noch den Hauptschulabschluss oder das berufsbildende Jahr gepackt. Nach dem Berufspraktikum hat Heide Bialas manchmal von Personalchefs gehört: „Wenn der noch das zehnte Schuljahr macht, kann er sich melden. Wenn er die Grundtugenden mitbringt, pünktlich, ordentlich sein und sich was sagen lassen kann, dann kann er kommen. Was er dann noch wissen muss, das kann ich ihm vermitteln.“ Doch das waren eben wenige, sagt sie.

Am Ende ihrer Schulzeit ist Heide Bialas in die Altersteilzeit gegangen, um einigermaßen heile in die Rente zu kommen. Familie, sie hat einen Sohn, das Haus, der Garten, der Sport, sie wandert gern, spielt Tennis, und dann noch der Vollzeitknochenjob – am Ende sei sie nervlich extrem stark belastet gewesen. „Aber ich habe schon früh zu einer inneren Stärke gefunden.“ Ihr Blutdruck ist zu hoch. „Meine Ärztin hat mir gesagt, dass mein Leben jahrelang in einem Turbomodus gelaufen sei. Deshalb würde sie sich nicht wundern, dass der Blutdruck so hoch ist. Der Körper wolle immer wieder zurück in den alten Modus.“

Wenn Rheinland-Pfalz am 18. Mai wie Heide Bialas 75 Jahre alt wird, dann ist die Bassenheimerin weit weg – in Erfurt und Potsdam. Wenn die Menschen sie dort nach ihrer Heimat fragen, was antwortet sie ihnen? „Dass ich aus Rheinland-Pfalz komme, und zwar aus Koblenz. Das ist eine Stadt, die umgeben ist von vier Mittelgebirgen, von vielen schönen alten Städten und Ortschaften, die so toll hergerichtet sind, und von wunderschönen Traumpfaden.“ Und welche Menschen sind typisch für Rheinland-Pfalz? „Menschen, die am Mittelrhein leben. Sehr lebensfrohe Menschen, sehr gesellige, sozial eingestellte, extrovertierte Menschen, die auf andere zugehen, bei denen es ausreicht, dass man sich begegnet. Bei ihnen reicht ein bisschen, damit sich etwas daraus entwickelt.“ Wie bei Heide Bialas. Christian Kunst