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Rheinland-Pfalz kommt aus der Retorte

Die Wiege des Landes und seiner Verfassung steht in Koblenz – Landtag und Regierung sind erst 1951 komplett nach Mainz umgezogen

29.05.22
Rheinland-Pfalz kommt aus der Retorte

Landeshauptstadt Koblenz: Das Foto aus dem Sommer 1947 zeigt die Regierungsbank des ersten Kabinetts von Peter Altmeier (rechts) bei einer Landtagssitzung im Koblenzer Rathaus. Foto: Landeshauptarchiv Koblenz

Rheinland-Pfalz ist wie alle Bindestrichländer nicht historisch gewachsen. Das Land kommt aus der Retorte der französischen Militärregierung. Es basiert zunächst nur auf der „Ordonnance Nr. 57“, der Verordnung von General Pierre Koenig vom 30. August 1946. Die Verfassung soll 1947 zur einigenden Kraft für die Menschen mit unterschiedlichen Mentalitäten werden – mit großer Hoffnung auf Freiheit und Demokratie.

Aus freiem Willen des Volkes fügt sich 1946 das Land also zunächst nicht aus Teilen der ehemals preußischen Provinz Hessen-Nassau, der preußischen Rheinprovinz, der bayerischen Pfalz, Rheinhessen und dem ehemals oldenburgischen Gebiet um Birkenfeld zusammen. Ob das Land eine stabile Zukunft hat – dies weiß 1946 auch noch niemand. Wir schildern erste Stationen.

Rheinland-Pfalz erlebt am 15. September 1946 eine Zäsur: die ersten freien Kommunalwahlen seit 1933. Am 22. November folgt der zweite Schritt in die Demokratie: Der erste (provisorische) Landtag als verfassungsgebende Beratende Versammlung tritt im Koblenzer Stadttheater auf die politische Bühne – noch unter den Augen der französischen Militärregierung. Die Mitglieder sind nach den Kommunalwahlen von sogenannten Wahlmännergremien demokratisch ausgesucht worden.


Nach langem NS-Terror und vernichten- dem Krieg herrscht keine fröhliche Aufbruchstimmung in diesem Landtag. Die Gesichter der 120 Männer und sieben Frauen sind vom Leid gezeichnet, von politischer Haft, KZ oder Flucht, von Trauer um Gefallene, Sorge um Vermisste und bitterster Not, die zwischen Trümmern herrscht. Der eindringliche Mahnruf, gemeinsam von Christ- und Sozialdemokraten, Liberalen wie Kommunisten formuliert, geht als verzweifelte Bitte bis heute unter die Haut: „Gebt unseren darbenden Frauen und Kindern Brot!“
    

Die christdemokratische Abgeordnete Else Peerenboom-Missong will der Welt vor Augen halten, wie gefährlich, wie brisant der Hunger ist, der vor allem Jugendliche demoralisiert, die vom Staat bisher nur Krieg, Gewalt, Hass und Not kennen: „Das Volk will keine Revolte, es will den Frieden! Aber wir wollen leben. Wir hoffen in unserer Not auf Verständnis der Militärregierung. Wo wir allein nicht mehr können, erbitten wir die Hilfe der Welt.“ Die kämpferische Frau trifft den Nerv der Stunde: „Für Gräber brauchen wir keine Verfassung! Das Leben muss gesichert sein.“

Die in dicke Wintermäntel gehüllten Gründerväter und -mütter sitzen unter einem notdürftig geflickten Dach, als sie unter Zeitdruck an der demokratischen Verfassung arbeiten. Als Vordenker geht – wie später auch bei der Vorbereitung des Grundgesetzes – der Staatsrechtler Adolf Süsterhenn (CDU) in die Geschichte ein. Die Versammlung debattiert im Koblenzer Theater, im Rathaus, im Görreshaus und im (1974 abgerissenen) Hotel Rittersturz hoch über dem Rhein. Wenn die Mitglieder einen Blechnapf mitbringen, bekommen sie im eisigen Winter eine warme Mahlzeit, gegen 20 Reichsmark Pfand auch einen Löffel. Aber es muss nicht nur Hunger, sondern mit festem Willen auch die menschenverachtende Ideologie der Nazidiktatur besiegt werden – mit einem demokratischen Gegenentwurf der Verfassung.

Am 2. Dezember bildet die Militärregierung eine vorläufige Regierung mit Wilhelm Boden als ersten Ministerpräsidenten. Damit ist nach Besatzungsrecht ein Staat geschaffen. General Koenig legt den Termin für die Volksabstimmung über die Landesverfassung und die Wahl des ersten Landtags auf den 18. Mai 1947 fest. Damit wächst der Termindruck für die Verfassung noch. Die Herkulesarbeit für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit wird in einem Tempo geschafft, in dem heute kaum noch ein Gesetz in Kraft treten kann. Völlige Einigkeit herrscht aber damals auch nicht, wie die Abstimmung zeigt. Ablehnende Stimmen kommen vor allem aus den Reihen von SPD und KPD. Ein Zankapfel sind nach Konfessionen getrennte Schulen.

In den ersten Landtag wählen die rund 1,6 Millionen wahlberechtigten Rheinland-Pfälzer 101 Abgeordnete – 48 von der CDU, 34 von der SPD, acht der KPD, sieben der LP (später FDP) und vier vom Sozialen Volksbund (SV), der später mit der FDP fusioniert. Die Verfassung wird vom Volk mit der knappen Mehrheit von 53 Prozent angenommen – gegen starke Widerstände in Rheinhessen und in der Pfalz, wo Konfessionsschulen abgelehnt werden. Dem Bindestrichland, das für Ministerpräsident Peter Altmeier 1947 als Ergebnis von Zonen- und Besatzungspolitik „durchaus keinen Ewigkeitswert“ hat, droht immer wieder die Neugliederung, um Landesteile Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen zuzuschlagen. Aber alle Vorstöße laufen ins Leere. Das am grünen Tisch zusammengewürfelte Land fällt nicht auseinander. Im Gegenteil. Und es lebt heute geeint und längst auch nicht mehr nur von Reben und Rüben, wie beispielsweise die international bekannte BASF oder der erfolgreiche Impfstoffhersteller Biontech beweisen.

Die französische Militärregierung hat mit ihrer Verordnung verfügt, dass Mainz die Landeshauptstadt wird. Aber 1947 liegt die Stadt noch zu sehr in Trümmern. Deshalb steht die Wiege von Verfassung und Parlament in Koblenz. 1950 wehrt sich der Landtag zunächst auch gegen den Umzug nach Mainz. Frankreich reagiert verärgert. Danach wird am 16. Mai 1950 noch einmal abgestimmt. Ministerpräsident Altmeier kämpft als Koblenzer für Mainz. Bis 1951 zieht die Regierung aus dem Haus der heutigen Struktur- und Genehmigungsdirektion sowie verschiedenen anderen Gebäuden mit dem Landtag nach Mainz um.

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Ministerpräsident Peter Altmeier in seinem Büro in Mainz, wo er lange wirkte. Foto: RZ-Archiv/Karin Eckert
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Auch im ehemaligen Berghotel Rittersturz hoch über Koblenz debattierten die Gründerväter und Frauen der ersten Stunde im heutigen Rheinland-Pfalz über die Verfassung. Im Blechnapf gab es damals sogar eine warme Mahlzeit. 1974 wurde das Gebäude aus Sicherheitsgründen abgerissen. Der Abhang am Rittersturz wurde zu gefährlich. Foto: RZ-Archiv

Dies gilt heute als klug: Die geografische Lage fügt das Land politisch näher zusammen. Als verbindende Kraft aber gilt vor allem die Verfassung. Ihre bereits vor dem Grundgesetz geschriebene Urfassung von 1947 liegt heute gut gesichert im Tresor des Landtags. In der Regel wird sie nur alle fünf Jahre hervorgeholt, wenn ein Ministerpräsident oder eine Regierungschefin darauf vereidigt werden. Die Verfassung verteidigt sich in weiten Teilen bis heute selbst, wie der Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VGH), Professor Lars Brocker, als ihr höchster Hüter im Land sagt. Ihre Grundzüge, die Freiheit und Rechte der Bürger zu schützen, gelten bis heute. Allerdings hat sie der Landtag mit den notwendigen Zweidrittelmehrheiten immer wieder aktualisiert – nicht nur beim Datenschutz oder zuletzt mit der viel diskutierten Schuldenbremse. Seit 30 Jahren – 2022 auch ein wichtiger Geburtstag – kann auch jeder Bürger vor den VGH ziehen, wenn er sich in seinen von der Verfassung garantierten Rechten verletzt sieht.

In einem Punkt ist die Verfassung aber radikal geändert worden: Die Todesstrafe ist gestrichen worden – wenn auch erst seit 15. März 1991. Vollstreckt worden ist sie in Rheinland-Pfalz aber nie – „zum großen Glück des Landes“, wie Professor Brocker meint. Dies ist auch eher glücklichen Umständen zu verdanken als dem Verfassungsgrundsatz „Das Leben des Menschen ist unantastbar“. Denn 1947 steht keine Guillotine bereit. Im Land will auch keine Firma eine bauen. Das schließlich aus NRW gelieferte Fallbeil ist am 11. Mai 1949 im Mainzer Gefängnis betriebsbereit. Aber: Nur wenige Tage zuvor hat der Parlamentarische Rat in Bonn mit dem Grundgesetz die Todesstrafe in der Bundesrepublik bereits abgeschafft. Damit sind auch acht verhängte Todesurteile in Rheinland-Pfalz obsolet.

Zum 70. Geburtstag musste das Parlament wieder in einem Provisorium tagen – im Landesmuseum. Aber zum 75. Geburtstag können Besucher das für etwa 73 Millionen Euro rundum sanierte Deutschhaus mit seinem Plenarsaal besichtigen. Dabei mahnt die Verfassung, immer wieder neu an der Demokratie zu arbeiten und sie zu verteidigen. „Die Verfassung ist gerüstet für die Herausforderungen unserer Zeit. Sie gilt es, zu bewahren.“ Das ist die Botschaft von Professor Brocker zum 75. Jahrestag und zur Erfolgsgeschichte des Landes. Ursula Samary