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Dialekt ist Heimat

Rheinland-Pfälzer über 70 helfen Sprachwissenschaftlern, ihre Mundart zu bewahren – Interaktive Karten machen Aufzeichnungen jedermann zugänglich

29.05.22
Dialekt ist Heimat

Joline Schmallenbach (links) hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Uni Siegen Gertrud Helm und Winfried Himmerich in Herschbach bei Selters/WW interviewt. Foto: Maue-Klaeser

Dialekt kann nerven, kann charmant oder kantig klingen. Und er kann lustige Sprachverwirrung verursachen. Wenn etwa ein Westerwälder aus Hartenfels im Nachbarort Herschbach einen Zentner „Ärbel“ (Kartoffeln) kaufen wollte, erntete er nur Kopfschütteln. Denn in Herschbach heißen Kartoffeln „Erbel“ – „Ärbel“ hingegen sind Erdbeeren und werden bestenfalls pfundweise veräußert. Solche feinen, aber entscheidenden Unterschiede werden seit einigen Jahren nicht nur schriftlich, sondern auch als Tonaufnahmen konserviert und wissenschaftlich dokumentiert.

„Ja, heute liebe ich die Sprache, ich spreche mit meiner ganzen Familie Platt, ich träume auf Platt, ich kann sogar schöner singen auf Platt.“ Das sagte kürzlich Sängerin und Entertainerin Ina Müller. Sie erzählt aber auch, dass ihr in der Schulzeit in den 70ern klargemacht wurde, dass es ein Defizit sei, Dialekt zu sprechen. Heute hingegen wird Mundart vielerorts gepflegt, zum Beispiel in Regionalverbänden wie dem Westerwald-Verein. Der Schatz der eigenen, bodenständigen und Gemeinsamkeit stiftenden Sprache soll bewahrt werden. „Dialekt ist Heimat“, sagt der Herschbacher Winfried Himmerich.

Wörterbücher werden zu interaktiven Atlanten weiterentwickelt.

Was mit handschriftlichen, später gedruckten Wörterbüchern, Lexika und Sprachatlanten begann, hat sich weiterentwickelt zu interaktiven Karten, die im Internet abrufbar sind, und auf Mausklick Hörproben von Dialektausdrücken bestimmter Regionen für gebräuchliche Begriffe und Formulierungen abspielen. Das ist ein amüsanter Zeitvertreib für lange öde Winterabende (auch, das eine oder andere Wort mal selbst laut auszusprechen), hat aber vor allem einen sprachwissenschaftlichen und konservierenden Hintergrund.

Diesen erklärt Marius Albers, Projektkoordinator des „Dialektatlas Mittleres Westdeutschland“ (DMW), der seit 2016 an den Universitäten Bonn, Münster, Paderborn und Siegen entsteht. Die linguistische Auswertung erfolgt, wenn alle Daten vorliegen. Hörproben sind bereits online verfügbar. Dazu sind sie auch diesseits der Landesgrenze vorrangig in den rechtsrheinischen Landkreisen von Rheinland-Pfalz unterwegs und sammeln mit Mikrofon und Aufnahmegerät Sprachproben – wie eben in Herschbach im Unterwesterwald. „Die Pandemie hat uns in der Erhebung der Daten zurückgeworfen, aber seit einigen Monaten bereisen unsere Mitarbeiter auch wieder die Region, um bei Gewährspersonen Sprachproben aufzunehmen“, berichtet Marius Albers.

„Eingeborene“ Mundartsprecher als wissenschaftliche Gewährspersonen.

Gewährspersonen, das sind gewissermaßen „Ureinwohner“, die die heimische Mundart von Kindesbeinen an kennen. Gesucht werden (an)Sprechpartner aus zwei Altersgruppen: geboren bis 1955 als ältere Generation und Angehörige der Jahrgänge 1973 bis 1993 als jüngere Vertreter. So kann in einem Arbeitsgang erfasst werden, wie sich der Dialekt, die Regionalsprache verändert.

Parallel zu den Tonaufnahmen entsteht an den Unis bereits der „Sprechende Atlas“, der die Tondokumente und das Gesprochene in Lautschrift online wiedergibt. „Das ist eine minimale Vorauswertung“, sagt der Projektkoordinator aus sprachwissenschaftlicher Sicht: Was bereits „präsentabel“ sei, werde online gestellt (www.dmw-projekt.de, Menüpunkt Altaskarten).

Für den Laien allerdings ist dieser „Vorgeschmack“ schon interessant und aufschlussreich genug – und birgt zudem einen unerwarteten Spaßfaktor. Mit zunehmender Zahl der Datensätze soll auch die Internetseite „wachsen“ und die Karte immer flächendeckender und feiner mit Erfassungspunkten überzogen werden.

Dialektgrenzen machen Projekt spannend und anspruchsvoll.

Verschiedene Dialektgrenzen verlaufen durch das Erhebungsgebiet des DMW. Die „Benrather Linie“, die zwischen dem niederdeutschen und hochdeutschen Sprachraum verläuft – erkennbar an der Aussprache „maken“ oder „machen“ – ist nur eine davon, aber laut Albers „die wichtigste Dialektgrenze im Deutschen. „Dadurch wird die Arbeit an dem Projekt besonders spannend und anspruchsvoll“, sagt er. Übrigens ist Hochdeutsch im sprachwissenschaftlichen Gebrauch nicht zu verwechseln mit der Standardsprache, die landläufig als Hochdeutsch bezeichnet wird.

Gewährspersonen in der Altersgruppe 70 plus sucht das Team des „Dialektatlas Mittleres Westdeutschland“ noch in folgenden Orten: Wallersheim, Ehrenbreitstein, Pfaffendorf (KO); Bendorf (MYK); Daaden, Gebhardshain (AK); Buchholz, Windhagen, Vettelschoß, Breitscheid, Neustadt/Wied (NR). Folgende Kriterien sind zum Mitmachen wichtig: Man sollte 70 Jahre oder älter sein, seit der Geburt in dem Ort aufgewachsen sein und mindestens ein Elternteil sollte ebenfalls aus dem Ort stammen. Auskunft gibt Petra Solau-Riebel, Telefon 0151/288 95487 oder E-Mail an solau-riebel@germanistik.uni-siegen.de. Unterlagen gibt es auch online unter www.dmw-projekt.de/mitmachen

Durch den rheinland-pfälzischen Erhebungsbereich des DMW verläuft eine andere Grenze, die sogenannte Bacharacher Linie. Sie trennt die Regionen, in denen „das“ oder „dat“ gesagt wird, und verläuft vorbei an Oberwesel, Nastätten, Katzenelnbogen und Niederneisen. Die Sprachproben aus den Orten dies- und jenseits der „Bacharacher Linie“ bestätigen diesen Verlauf: Während beispielsweise in Braubach, einem Ort mit besonders vielen Probanden, siebenmal „dat“ und einmal „det“ aufgezeichnet wurde, lauten die Hörproben aus Kaub (eine) und aus Rettert (drei) südlich der Linie auf „das“.

Da Dialektkarten früher nur in gedruckter Form veröffentlicht wurden, „waren sie zwangsläufig inaktuell“, erläutert Projektkoordinator Albers. Als Dialektatlas habe man den DMW an bestehende Projekte angeschlossen. Im Süden gebe es einige Atlanten, vor allem den „Mittelrheinischen Sprachatlas“, von deren Erstellung einiges übernommen werden konnte, manches habe man in Siegen und den anderen am DMW beteiligten Universitäten Bonn, Münster und Paderborn angepasst.

Der klassischen Dialektologie entstammten etwa das Fragebuch, die sogenannten Wenkersätze (Beispielsätze und -wörter) und die Vor-Ort-Erhebung. „Was uns auszeichnet, ist die Präsentation der Daten auf der Internetseite www.dmw-projekt.de“, sagt Albers.

Ziel aller Dialektforschung sei indes die Vergleichbarkeit der Daten. Das Erhebungsgebiet des DMW umfasst einige „Zipfel“ von Niedersachsen, ganz Nordrhein-Westfalen sowie das angrenzende rechtsrheinische Rheinland-Pfalz.

Pandemie hat Arbeit am Sprachatlas anderthalb Jahre lang lahmgelegt.

Aber Dialektforschung ist auch wissenschaftlich spannend, betont Albers: „Es ist nicht alles ein Deutsch, sagt er und nennt die Sprache ein Faszinosum. Weil die Pandemie die Aufnahme von Sprachproben in Präsenz monatelang lahmgelegt hatte, wurde auch eine App entwickelt, um Daten digital in Videokonferenzen zu erheben, durch die die wissenschaftlichen Mitarbeiter (Exploratoren) die Teilnehmer führen. Allerdings habe sich die Nutzung weitgehend auf die jüngere Generation beschränkt. „Das war bei der Entwicklung der App auch unsere primäre Zielgruppe“, sagt der Projektkoordinator. Die App wurde bereits nach kurzer Testphase eingeführt, „sie konnte aber nicht alles auffangen“, weiß Marius Albers.

Von Anfang 2020 bis Mitte 2021 hat die Pandemie die Datenerhebung für den DMW vereitelt. Seit einigen Monaten aber haben die acht Exploratoren der vier beteiligten Universitäten die Liveaufnahmen wieder aufgenommen. Ein Hygienekonzept wurde eigens entwickelt. „Es läuft etwas schleppend an“, gibt Albers zu, „aber es gibt wieder Termine, und wir hoffen, dass es wieder besser läuft.“ Das Projekt begann 2016 mit dem Startmodul, das aus der Entwicklung der Fragen und einer Testphase bestand. Seit 2018 läuft das Erhebungsmodul. Das Auswertungsmodul beginnt im eigentlichen linguistischen Sinne erst nach Abschluss der Erhebung, auch wenn der „Sprechende Atlas“ schon parallel gefüttert wird. Die Gesamtlaufzeit des Projekts geht bis 2032. „Wir hoffen, dass es bis dahin geschafft ist“, sagt Albers. Er ist seit 2021 Koordinator des Projekts DMW. Der Germanist ist schon zu Studienzeiten „hineingerutscht“, sagt er – und nennt als einen Grund seine Heimatverbundenheit: Er stammt aus dem Erhebungsgebiet des DMW und lässt im Gespräch seine Sauerländer Herkunft sanft anklingen. Katrin Maue-Klaeser

Weitere Informationen zum DMW gibt es auf der Internetseite www.dmw-projekt.de oder per E-Mail an dmw@germanistik.uni siegen.de. Nördlich schließt sich beispielsweise www.rheinische-landeskunde.lvr.de/de/sprache/sprechende_sprachkarte/sprachatlas_1.html an. Ein amüsantes Onlineportal ist www.dialektkarte.de, dort gibt es neben Hörproben aus ganz Deutschland unter anderem auch ein tolles Ratespiel.

Mit Rad und Mikro einmal rund ums Land

Drei Westerwälder machen sich auf, mit dem Fahrrad Rheinland-Pfalz zu umrunden. Einer von ihnen, Ralf Kohlhaas, hat die Idee, unterwegs Passanten anzusprechen und Dialektproben aus den Orten an den Außengrenzen des Landes zu sammeln.

Kohlhaas selbst stammt aus dem Oberwesterwald, und das Interesse an der Mundart war spätestens geweckt, als ihm und seiner Frau, die nur wenige Kilometer entfernt aufgewachsen ist, die enormen Unterschiede zwischen ihren eigenen Heimatdialekten auffielen. Die drei Radfahrer lernen rasch, dass es sich lohnt, vor allem ältere Menschen anzusprechen. „Die Jüngeren sind meist nach wenigen Worten wieder ins Hochdeutsche verfallen – oder sie haben uns gleich zu Älteren weitergeschickt“, schmunzelt Kohlhaas.

Oft machen sich die Senioren rund ums Haus zu schaffen, fegen den Gehweg oder arbeiten im Garten, und sie sind zumeist gern bereit, spontan einige Sätze in ihrem Platt zu sprechen. „Wir haben die Leute angesprochen, und sie haben die Bitte mit einem Lächeln und Freude aufgenommen“, berichtet Kohlhaas. Fällt dem Einheimischen auf die Schnelle nichts ein, helfen die Radfahrer mit Anregungen oder Fragen oder spielen eine der bereits vorhandenen Aufnahmen vor. „Vielen ist es auch leichter gefallen, wenn wir sie auf Platt angesprochen haben“, erzählt er.

„Wir finden es einfach spannend“, erklärt Kohlhaas die Motivation. Besonders gut hat ihm neben dem heimischen Renneroder Platt der Dialekt aus „verschlafenen Nestern“ in der Südwestpfalz gefallen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm eine Begegnung in Rehe: Dort wurden die drei Radfahrer von Cafébesuchern an die Küsterin des Betsaals im historischen Rathaus verwiesen. Diese war von dem Vorhaben und dem Charme der drei Landumradler so angetan, dass sie ihnen eine ganze Führung durch das schöne Fachwerkgebäude in Reher Platt schenkte. Katrin Maue-Klaeser