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Der Boden-Skandal: Flüchtlinge unerwünscht

Wie der erste Ministerpräsident des Landes nach nur wenigen Wochen im Amt über ein Schreiben über Heimatvertriebene gestürzt ist

29.05.22
Der Boden-Skandal: Flüchtlinge unerwünscht

Millionen Deutsche fliehen nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen. Nach Rheinland-Pfalz kommen zunächst nur wenige. Auch weil sich das Land gegen sie sträubt. Foto: dpa

Im Landeshauptarchiv Koblenz wird ein brisantes Schriftstück aus dem Jahr 1945 aufbewahrt. So brisant, dass es den späteren Ministerpräsidenten Wilhelm Boden (CDU) zwei Jahre später schon nach wenigen Wochen im Amt zum Rücktritt zwingen wird. Damals sind Millionen Menschen aus dem Osten auf der Flucht nach Westen. Willkommen sind sie in Rheinland-Pfalz nicht. Zumindest nicht bei Boden. „Da mit einem größeren und ungeregelten Andrang solcher Flüchtlinge zu rechnen ist, möchte ich nicht verfehlen, auf die ernsten Gefahren hinzuweisen, die die Durchsetzung der rheinischen Bevölkerung mit Bevölkerungsmassen aus dem Osten mit sich bringt“, schreibt er – damals noch als „Le Regierungspräsident“ von Koblenz – an den „Chef de Gouvernement Militaire du Regierungsbezirk Coblence“.

Das ist auch im Nachkriegsdeutschland starker Tobak. Boden fürchtet also um den katholischen Charakter des Rheinlands. Denn die meisten Heimatvertriebenen sind Protestanten. Und nicht nur das: „Die politischen Gefahren einer derartigen Durchsetzung liegen in der andersartigen Mentalität der Ostbevölkerung begründet“, schreibt er weiter. „Diese war von jeher militaristisch und nationalistisch und später nationalistischer eingestellt als die Westbevölkerung.“ Das Schreiben birgt genug politischen Sprengstoff, um Boden im Sommer 1947 wieder aus dem Amt zu fegen. Nur kurz nach der Landtagswahl.

Dabei kann von einer Flüchtlingswelle aus dem Osten ins heutige Rheinland-Pfalz eigentlich keine Rede sein. Zumindest nicht vor 1950. Schon die französischen Besatzer wehren sich mit Händen und Füßen gegen die Heimatvertriebenen. Auch Bodens Nachfolger Peter Altmeier stemmt sich zunächst gegen den Zuzug von Sudeten, Schlesiern, Pommern und Ostpreußen. Und so beträgt der Anteil von Flüchtlingen an der rheinlandpfälzischen Bevölkerung 1950 gerade mal 5 Prozent. Kein Ruhmesblatt für das Land. Zum Vergleich: In Schleswig-Holstein liegt der Anteil bei 33 Prozent, in Niedersachsen bei 27 Prozent.

Doch am Ende ist aller Widerstand vergeblich. Mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 ist Schluss mit der Blockadehaltung. Jetzt werden die Flüchtlinge zwischen den Bundesländern gleichmäßiger verteilt. Im April 1950 kommt ein erster großer Transport mit 439 Vertriebenen in Rheinland-Pfalz an. Die meisten treffen in den großen Übergangslagern in Niederbreisig und Osthofen ein. Von dort geht's weiter in die regionalen Zwischenunterkünfte.

Rheinland-Pfalz rückt enger zusammen. Notgedrungen. Bis 1960 hat etwa jeder zehnte Einwohner im Land einen ostdeutschen Migrationshintergrund, wie man heute sagen würde. Damals werden sie nicht selten als „Pollaken“ und „Rucksäcke“ diskriminiert. Eine ausgeprägte Willkommenskultur ist nicht auszumachen. Denn viel zu teilen gibt's nicht. Die Ortsbürgermeister ziehen jetzt von Haus zu Haus, um zu prüfen, wo Platz ist. Dann wird einquartiert. Groß gefragt werden die Menschen nicht. Und so hält sich die Begeisterung über die Neuankömmlinge oft in Grenzen. Auch weil es in Eifel, Hunsrück und Westerwald zuvor kaum einen nennenswerten Bevölkerungsaustausch gegeben hat. Geschlossene Gesellschaft.

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„Da mit einem größeren und ungeregelten Andrang solcher Flüchtlinge zu rechnen ist, möchte ich nicht verfehlen, auf die ernsten Gefahren hinzuweisen, die die Durchsetzung der rheinischen Bevölkerung mit Bevölkerungsmassen aus dem Osten mit sich bringt. Die politischen Gefahren einer derartigen Durchsetzung liegen in der andersartigen Mentalität der Ostbevölkerung begründet.“

Wilhelm Boden, der spätere Ministerpräsident, im Jahr 1945

Das wird sich nun ändern. Der Neustart ist schwer. Längst nicht überall verläuft die Integration geräuschlos, wie ein Zeitungsbericht aus dem Jahr 1953 beweist. Darin ist von einem Wohnungsbesitzer im Westerwald zu lesen, der sich beharrlich weigert, ein älteres Ehepaar aufzunehmen. „Das Haus war in Dunkel gehüllt, alle Türen fest verschlossen und verriegelt“, heißt es dort. „Niemand reagierte auf das Klopfen des Bürgermeisters.“ Erst dem Gendarmeriemeister wird geöffnet – „mit einer Flut nicht wiederzugebender Schimpfwörter“. Unterdessen regnet es in Strömen. Die wenigen Habseligkeiten der „alten Leutchen“ sind aufgeweicht. „Sie konnten in dieser Nacht nicht in ihrem neuen Heim schlafen, saßen beim Bürgermeister und weinten.“ Kein Einzelfall.

Bis 1955 werden 262 000 Vertriebene im Land integriert – 7,9 Prozent der Bevölkerung. Das ist der niedrigste Anteil aller Länder. Trotzdem ist es ein gewaltiger Kraftakt. Aber die Integration gelingt. Irgendwie. Bald gibt es sogar die ersten Ehen zwischen Katholiken und Protestanten. Das wäre wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen. Der Skandal wird irgendwann zur Gewohnheit.

Vielleicht auch weil die Integration der Flüchtlinge zum ökonomischem Aufschwung führt. Denn Fachkräfte werden im Wirtschaftswunder händeringend gesucht. Unterdessen wird der Zusammenhalt der Vertriebenen weiter gepflegt. Auf Bilderabenden etwa träumen sie von der alten Heimat. Doch schon bei den meisten Nachkommen spielt die Herkunft oft keine große Rolle mehr. Die Mission ist geglückt. Deutschland hat es damals geschafft. Dirk Eberz