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Interview: "Die Protestlandschaft ist heute fragmentierter"

Interview: "Die Protestlandschaft ist heute fragmentierter"

Der Politikwissenschaftler Daniel Saldivia Gonzatti erklärt im Interview, wie sich die Demonstrationskultur verändert hat.

23.05.24
Interview: "Die Protestlandschaft ist heute fragmentierter"

Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima haben Menschen für den Atomausstieg demonstriert - wie hier in Köln. Die Anti-Atomkraft-Bewegung hat in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Welchen Einfluss hatte sie auf den tatsächlichen Ausstieg aus der Kernenergie? Foto: Oliver Berg/dpa

In Deutschland sind die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder auf die Straße gegangen: für Frieden, gegen Atomkraft, für Klimaschutz oder Demokratie. Zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik hat sich unsere Zeitung mit Dr. Daniel Saldivia Gonzatti über die Protestströmungen in der BRD unterhalten. Der Protestforscher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung, das vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und der Freien Universität Berlin getragen wird.

Welche Protestbewegungen gab es in der Geschichte der Bundesrepublik?

Am WZB haben wir ein Protest-Monitoring und untersuchen, welche Proteste es von 1950 bis heute gab. In den 50er- und 60er-Jahren standen ökonomische Proteste im Vordergrund, die Menschen sind für bessere Löhne auf die Straße gegangen. Auch das Thema Demokratie hat eine Rolle gespielt: Die 68er-Bewegung hat zum Beispiel linke Gruppen mobilisiert, um gegen staatliche Maßnahmen wie die Notstandsgesetze vorzugehen. Danach haben wir zwei große Bewegungen erlebt, die sehr lange angehalten haben: die Anti-Atomkraft- und die Friedensbewegung. Sie haben bis heute Spuren hinterlassen – sei es in politischen Parteien wie bei den Grünen oder bei Friedensprotesten wie den Ostermärschen, die es seitdem gibt.

Wie ging es ab den 90ern mit der Protestkultur weiter?

Die 90er-Jahre waren weiter gekennzeichnet von der Anti-Atomkraft-Bewegung, aber auch von rechter Mobilisierung. In den Jahren nach dem Mauerfall gab es viel rechtsradikale und rechtsextremistische politische Gewalt. In den 2000ern sehen wir, dass es einen Rückgang an Protesten gab, obwohl die Hartz-IV-Reform eine starke sozioökonomische Reform war. Es gab zwar eine Mobilisierung dagegen – aber es war nicht der große Protest gegen soziale Ungleichheit. Mitte der 2010er-Jahre ist vor allem Pegida bekannt geworden, was für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ steht. Montagsdemonstrationen haben hier eine komplett andere Konnotation als damals in der DDR erhalten. Und seit 2019 erleben wir eine Wiederbelebung des Straßenprotests, zum Beispiel durch Klima- oder Corona-Proteste.

Wie ging es ab den 90ern mit der Protestkultur weiter?

Was wir über die vergangenen 70 Jahre sehen, ist eine leichte Verschiebung von ökonomischen Themen zu kulturellen und Klima-Themen. Das ist ein Makrotrend, der sich abzeichnet, auch wenn es in diesem Jahr schon viele Streiks gab. Zudem ist die Protestlandschaft heute fragmentierter. Wir haben deutlich kleinere Themen auf der Protestagenda. Ein Beispiel sind die Proteste zu Stuttgart 21. Dazu gab es eine unglaubliche nationale Resonanz, aber es war ein sehr lokales Thema, das lokal geblieben ist. Diese Bewegung ist nicht etwa Teil der großen Umweltbewegung in Deutschland geworden. Früher war es häufiger der Fall, dass Protestbewegungen verschiedene Themen zusammengeführt haben. Die Friedensbewegung hat beispielsweise auch Menschenrechte im Ausland thematisiert. Heute sehen wir eine größere Individualisierung von Protesten.

Was ist die Ursache für diese Fragmentierung?

Unter anderem ist es einfacher geworden, einen Protest zu organisieren. Man postet etwas, verschickt einen Tweet und meldet eine Demo an – alle wissen über die Sozialen Medien Bescheid. Man braucht keine große Organisation, um Menschen zusammenzubringen - sondern man kann es schaffen, für ein kleines Anliegen sehr schnell Leute auf die Straße zu bringen.

Über Soziale Medien lässt sich nicht nur Protest organisieren, er findet teilweise auch dort statt.

Genau. Das sehen wir zum Beispiel bei der „Me Too“-Bewegung. Der Hashtag #MeToo sollte auf sexuelle Belästigung aufmerksam machen. Diese Online-Bewegung aus den USA hat auch Effekte in Deutschland gezeigt. Aber die Kehrseite des digitalen Protests ist, dass wir neue Formen von politischer Gewalt sowie von Hass und Hetze im Internet erleben – bis hin zu Morddrohungen.

Dann haben sich Hass und Hetze etwa gegen Politiker durch Soziale Medien verstärkt?

Man muss auf zwei Dinge blicken: Zum einen bin ich im Netz distanziert von meinem Gegenüber. Die Hemmschwelle in einer scheinbar anonymen, digitalen Welt ist geringer. Es ist etwas anderes, auf einer Demonstration einen Politiker zu beleidigen. Das zweite ist, wir erleben – unabhängig von der digitalen Welt –, dass eine Verrohung der Debatte stattgefunden hat, vor allem seit der Pandemie. Wir stecken in verschiedenen Krisen. Das hat zu einem massiven Vertrauensverlust der Bevölkerung in politische Institutionen geführt. Die Menschen distanzieren sich von der Politik, nicht nur von der Bundesregierung, sondern allgemein von Parteien und vom Parlamentarismus – eine schlechte Dynamik, die durch die Möglichkeiten der Sozialen Medien gefördert wird.

Haben Sie ein Beispiel für diese Verrohung im politischen Diskurs?

Wenn wir an die Corona-Demos und an Teile der Bauern-Proteste denken, ging es zwar häufig um die Sache: Die Demonstranten sind gegen eine Impfpflicht oder gegen die Kürzungen von Agrarsubventionen. Aber des Öfteren schwappte der Protest auch über in Aussagen wie „Merkel muss weg“. Gegen eine Regierung zu protestieren, ist an sich nicht schlimm, Protest ist gesund für eine Demokratie. Aber wenn er einen Anti-System-Charakter hat – was vor allem bei den Corona-Protesten zu finden war –, merken wir, dass es eine Verrohung der Debatte gibt.

Konnten politische Entscheidungen in der BRD durch Proteste beeinflusst werden?

In der Wissenschaft ist es immer schwierig, einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Aber es gibt Ereignisse, bei denen ich denke, dass Proteste einen Einfluss hatten. Ein Beispiel: Nach Fukushima gab es in Deutschland eine sehr schnelle Wende zum Atomausstieg. In anderen europäischen Ländern war das nicht der Fall. Aus meiner Sicht hat die Anti-Atomkraft-Bewegung seit den 70er-Jahren den Nährboden dafür geschaffen, dass diese Entscheidung leichter gefallen ist. Wir wissen in der Forschung, dass große, friedliche Proteste die Entscheidungen von Abgeordneten beeinflussen. Auch Meinungen können dadurch beeinflusst werden. Oft ist es kein direkter Erfolg, sondern mehr ein Prozess, in dessen Verlauf die Bevölkerung und PolitikerInnen für etwas sensibilisiert werden.

Aktuell gehen die Menschen gegen rechts auf die Straße. Anstoß war Anfang des Jahres ein durch Correctiv-Recherchen bekannt gewordenes Geheimtreffen Rechtsradikaler bei Potsdam, an dem auch AfD-Politiker teilgenommen haben. Warum haben gerade diese Berichte so eine Reaktion ausgelöst, wo doch Teile der AfD vom Verfassungsschutz schon zuvor als gesichert rechtsextremistisch einstuft wurden?

Dazu wird es noch viel Forschung geben. Eine Gefahr ist etwas konkreter geworden mit diesem Treffen. Das hat eine Alarmglocke geschlagen. Die AfD ist stärker geworden, was die Unterstützung der Bevölkerung angeht – und es stehen die Europawahl sowie drei Landtagswahlen an. Das hat viele Menschen dazu bewegt, Empörung zu äußern. Auf lokaler Ebene gibt es viele Organisationen, die sich neu gründen, die mit anderen Strukturen zusammenarbeiten. Die Frage, die sich stellt, ist: Wird die Protestbewegung fortbestehen bis zu den Wahlen im Sommer, wenn es darauf ankommt, dass nichtdemokratische Strömungen weniger Unterstützung bekommen – oder wird das eine Momentaufnahme sein?

Das Gespräch führte
Cordula Sailer-Röttgers

Zur Person

Dr. Daniel Saldivia Gonzatti ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung in Berlin. Er ist in das Protest-Monitoring am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung involviert – ein Projekt, in dem zu Protesten und politischer Radikalisierung in Deutschland geforscht wird. Zu seinen Schwerpunkten gehören Protestdynamiken, Medien und politische Institutionen. red