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Vom Wirtschaftswunderland zum kranken Mann Europas?

Vom Wirtschaftswunderland zum kranken Mann Europas?

23.05.24
Vom Wirtschaftswunderland zum kranken Mann Europas?

ARCHIV - Blick auf das Werksgelände des Chemiekonzerns BASF, aufgenommen am Dienstag (03.04.2012) in Ludwigshafen. Am 23.11.2012 beginnt mit dem offiziellen Spatenstich der Bau einer neuen Kunststofffabrik auf dem Gelände des weltgrößten Chemiekonzerns, wie die BASF am Mittwoch mitteilte. Mit rund einer Milliarde Euro ist es die größte Investition in der Geschichte des BASF-Stammwerks. Foto: Uwe Anspach dpa/Irs +++ dpa-Bildfunk +++

Ist Deutschland der „kranke Mann Europas“, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht? 75 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes gibt es Stimmen zur gegenwärtigen Lage, die das genau so einordnen. „Deutschland ist wirtschaftlich wieder der kranke Mann Europas, und die Ampel verweigert ihm die nötige Medizin“, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, nachdem die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Konjunkturprognose für dieses Jahr auf ein Mini-Wachstum von 0,1 Prozent herabgesetzt hatten. „Damit unser Land fit für die Zukunft wird, müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken und private Investitionen attraktiver machen“, forderte Dobrindt.

Eine Gruppe der ersten 86 italienischen Gastarbeiter winkt während eines Aufenthalts auf dem Hauptbahnhof in Hannover aus dem Zug. In der Nacht zum 17. Januar 1962 traf die Gruppe in Wolfsburg ein. Sie wurden vom Volkswagenwerk eingestellt, da der Bedarf an Arbeitskräften auf dem inländischen Markt nicht mehr gedeckt werden konnte. (Zu dpa «Vor 60 Jahren trafen die ersten Gastarbeiter bei Volkswagen in Wolfsburg ein») +++ dpa-Bildfunk +++
Eine Gruppe der ersten 86 italienischen Gastarbeiter winkt während eines Aufenthalts auf dem Hauptbahnhof in Hannover aus dem Zug. In der Nacht zum 17. Januar 1962 traf die Gruppe in Wolfsburg ein. Sie wurden vom Volkswagenwerk eingestellt, da der Bedarf an Arbeitskräften auf dem inländischen Markt nicht mehr gedeckt werden konnte. (Zu dpa «Vor 60 Jahren trafen die ersten Gastarbeiter bei Volkswagen in Wolfsburg ein») +++ dpa-Bildfunk +++

Der kranke Mann Europas: Das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ hat den Begriff (sick man of Europe) vor einem Vierteljahrhundert geprägt. Die damalige Titelgeschichte über Deutschland löste Furore aus. Einen starren, festgefahrenen Arbeitsmarkt nannte der Economist damals als einen Grund für die Malaise, extrem ausufernde Sozialleistungen kämen hinzu – und natürlich die Kosten der Wiedervereinigung. Der Artikel erregte großes Aufsehen und schreckte die Politik auf. Die Regierung unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder steuerte dagegen und brachte tiefgreifende Reformen auf den Weg: Die Agenda 2010 wurde ins Leben gerufen – und fruchtete.

Krisenhafte Zustände überwand Deutschland damals – dabei hatte es nach der Verabschiedung des Grundgesetzes doch so gut angefangen: mit einem regelrechten „Wirtschaftswunder“. Der Begriff ist untrennbar verbunden mit dem ersten Wirtschaftsminister der jungen Bundesrepublik Deutschland: Ludwig Erhard. Als „Direktor der Verwaltung für Wirtschaft“ der drei westlichen Besatzungszonen verbindet er die Währungsreform im Jahr 1948 mit der Aufhebung der Zwangswirtschaft. „Begünstigt durch den Marshallplan und den ,Korea-Boom‘, beschert sein Reformprogramm Nachkriegsdeutschland einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung“, resümiert das Bundeswirtschaftsministerium – vielleicht mit ein bisschen Wehmut, was die heutige Lage angeht.

Der „Korea-Boom“ wurde durch den Korea-Krieg ausgelöst – rüstungsrelevante deutsche Produkte waren plötzlich wieder gefragt, so kurz nach dem Weltkrieg, und der Exportmotor, der Deutschland bis heute antreibt, sprang an. Der Marshallplan wiederum dürfte den meisten ein Begriff sein: Die Dollarmilliarden aus den USA ermöglichten es Deutschland überhaupt erst, Schutt und Asche des verlorenen Kriegs abzuschütteln. Danach ging es rasch aufwärts: So schnell, dass Deutschland schon bald die Arbeitskräfte ausgingen. Am 20. Dezember 1955 wurde in Rom das erste Anwerbeabkommen geschlossen. Darin wurde vereinbart, dass die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit in Italien gemeinsam mit der italienischen Arbeitsverwaltung Arbeitskräfte auswählen und anwerben solle. Bis 1964 erreicht die Zahl der „Gastarbeiter“ eine Million.

Ludwig Erhard setzte auf das von ihm mitentwickelte Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Der von dem Wirtschaftswissenschaftler Alfred Müller-Armack geprägte Begriff bezeichnet eine Wirtschaftsordnung, die Wettbewerb, Privateigentum und Gewinnorientierung mit sozialem Ausgleich verbindet. Ziel der Politik im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft ist es, wirtschaftlich effizientes Handeln zu ermöglichen und damit auch die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern und „Wohlstand für alle“ zu erreichen. Müller-Armack hatte das Konzept schon in den Kriegsjahren vorgedacht: Mit seinen Mitstreitern der „Freiburger Schule“ traf er sich seit den 1930er-Jahren regelmäßig in einer Hütte am Hausberg der Breisgau-Metropole, dem Schauinsland – so wurde es einem glaubhaft im Studium an der Albert-Ludwigs-Universität vermittelt. Die gemeinsamen Grundüberzeugungen der Freiburger Schule wurden unter dem Begriff Ordoliberalismus bekannt, und der bildete eben die Grundlage für die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft. Die Ordoliberalen lehnten aufgrund der historischen Erfahrungen sowohl die reine Marktwirtschaft, also den nackten Kapitalismus, als auch die Zentralverwaltungswirtschaft ab – die Planwirtschaft des Kommunismus. Stattdessen suchten sie den Mittelweg. Und Ludwig Erhard schlug ihn ein.

Die Grundlagen auch dafür schuf das Grundgesetz. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat dies 2007 in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) genau analysiert. Die Kernelemente, so Papier: „Das Grundgesetz garantiert in seinem Artikel 14 das Privateigentum einschließlich des unternehmen-bestimmen Eigentums und seiner ökonomischen Nutzbarkeit. Es gewährt in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Berufs- und damit auch Gewerbe- und Unternehmerfreiheit sowie das Recht der freien Wahl des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte. Ferner gewährleistet die Verfassung in Art. 11 Abs. 1 das Recht, an jedem Ort im Bundesgebiet Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Allen Deutschen wird in Art. 9 Abs. 1 GG das Recht der Gründung von Handelsgesellschaften sozietärer und korporativer Art, das Recht der Betätigung in solchen Vereinigungen, des Austritts, der Auflösung und des Fernbleibens von Korporationen gewährt. Die Freiheit des Abschlusses von Verträgen und der autonomen Vertragsinhaltsbestimmung ist, sofern nicht spezielle Garantien betroffen sind, Bestandteil der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit. Schließlich eröffnet Art. 9 Abs. 3 GG das Recht, Koalitionen zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben und über die Koalitionen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in einer Ordnung der sozialen Selbstverwaltung privatautonom festzulegen.“

Das ist doch eine ganze Menge und ermöglicht vieles von Arbeitgeberverbänden bis zu Gewerkschaften. Vor allem aber werden die Freiheitsrechte gesichert: Unternehmer mögen sich heute oft unfrei fühlen, gegängelt durch bürokratische Vorgaben und Berichtspflichten. Aber wichtig ist doch, dass sie sich auf Basis des Grundgesetzes ohne willkürliche Beschränkungen betätigen können. Interessant ist allerdings auch: Die Marktwirtschaft ist dort nicht ausdrücklich festgeschrieben, so Hans-Jürgen Papier in seiner aufschlussreichen Analyse. „Wirtschaftspolitische Unvernunft ist also noch kein Verfassungsbruch“, schlussfolgert er. Fügt allerdings im besten Juristendeutsch an: „Gleichwohl ergibt sich aus der vollzogenen Gesamtschau der grundrechtlich verbürgten Freiheiten für die wirtschaftliche Betätigung, dass in der Bundesrepublik Deutschland eine bestimmte Wirtschaftsordnung sicher nicht entstehen kann: eine Wirtschaftsordnung, die eine Koordination der Volkswirtschaft prinzipiell im Wege der Zentralverwaltung und in einem System imperativer und zentralisierter Staatsplanung bewerkstelligen wollte.“ Wie die Soziale Marktwirtschaft ausgestaltet werden sollte, blieb über die Jahrzehnte allerdings ein beständiger Diskussionspunkt: Wird der Markt zu sehr beschränkt, sind die sozialen Wohltaten allzu großzügig – oder ist es genau umgekehrt? Die Frage beschäftigt uns heute vom Lieferkettengesetz bis hin zu Bürgergeld und Kindergrundsicherung.

Tatsächlich entstanden ist in Deutschland ein äußerst vielfältiges Unternehmensbiotop: Der Mittelstand prägt unsere Volkswirtschaft, auch wenn große Namen von BMW bis Volkswagen im Vordergrund stehen. Gerade die rheinland-pfälzische Wirtschaft ist geprägt durch die Vielzahl – aber auch die Vielfalt – mittelständischer Unternehmen. Fast 158 000 Unternehmen zählte der Mittelstand in Rheinland-Pfalz im Jahr 2022. „Sie reichen vom Solo-Unternehmen bis zu Unternehmen mit 250 Beschäftigten und sind in allen Wirtschaftsbereichen aktiv – von der traditionellen Dienstleistung bis zur Hightech-Industrie“, resümiert das Wirtschaftsministerium in Mainz. „Kurz: Sie bilden die Basis der Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und sind wichtige Arbeitgeber.“

Doch auch hier gibt es ein dominierendes Unternehmen: Wenn die BASF hustet, hat ganz Rheinland-Pfalz einen Schnupfen, so ein geflügeltes Wort. Zuletzt lief es nicht so gut für den weltgrößten Chemiekonzern mit seinem Stammsitz in Ludwigshafen. Das ist Teil und Ausdruck des Bildes vom kranken Mann Europas.

Und die Mittelständler sind in einer Marktwirtschaft, mag sie auch noch so sozial sein, beständigem Wandel unterworfen – in den 75 Jahren seit der Verabschiedung des Grundgesetzes hat sich eine Menge getan. Das wohl prägnanteste Beispiel in unserem Bundesland ist der Niedergang der Schuhindustrie in der Südwestpfalz. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Pirmasens die ersten Fabriken gegründet, sie blühten allmählich auf – auch dank der niedrigen Löhne in der schlecht erschlossenen Region. Doch die Nachteile der Monoindustrie machten sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bemerkbar, schreiben Ute Engelen, Sabrina Erbach und Juliane Märker in einem Aufsatz auf wirtschaftsgeschichte-rlp.de. „Nach einer Phase der Hochkonjunktur in den 50er- und frühen 60er-Jahren geriet die deutsche Schuhindustrie durch günstiger produzierende ausländische Konkurrenz in Bedrängnis.“ Schuhfabriken gingen ein, und die Arbeitslosenzahlen stiegen. Die Region hat sich bis dato nicht vollständig davon erholt.

Heute steht für die gesamte deutsche Wirtschaft wieder eine Transformation an – diesmal eine gewaltige. Weg von der fossilen Energie, hin zu Erneuerbaren. Weg vom Analogen, hin zum Digitalen. Mit allen Begleiterscheinungen: Alte Berufsqualifikationen verlieren ihren Wert, es gilt, neue zu erwerben. Alte Geschäftsmodelle funktionieren nicht mehr, es gilt, neue zu entwickeln.

Mit dem Blick zurück auf 75 Jahre wächst die Gewissheit: Auch diese Transformation wird insgesamt gelingen. Ja, es hakt hier und dort, vieles könnte schneller gehen, mancherorts wird es bleibende Schäden geben wie in der Südwestpfalz. Und mit den jetzigen Anzeichen der Schwäche fällt es der deutschen Wirtschaft auch nicht so leicht, das Ruder rasch und kraftvoll herumzureißen. Doch der kranke Mann Europas hat sich schon mal erholt. Gute Besserung! Jörg Hilpert