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Das geheime Politbüro des "Spiegel": Als in Rhöndorf deutsche Geschichte geschrieben wird

Das geheime Politbüro des "Spiegel": Als in Rhöndorf deutsche Geschichte geschrieben wird

Der ehemalige Bonner "Spiegel"-Chef Dirk Koch lud die Spitzen der Bonner Republik zu einem Gespräch hinter verschlossenen Türen nach Rhöndorf ein. Im Gespräch mit unserer Zeitung erinnert er sich an Anekdoten.

23.05.24
Das geheime Politbüro des "Spiegel": Als in Rhöndorf deutsche Geschichte geschrieben wird

In diesem schlichten Fachwerkhaus in Rhöndorf wird Geschichte geschrieben. Ex-“Spiegel“-Redakteur Dirk Koch lädt ab 1970 die Bonner Politprominenz in das enge Tal zu Füßen des Drachenfels ein, um sich auszutauschen. Der Journalist kann über die Geheim treffen kuriose Anekdoten erzählen. Foto: Dirk Eberz

Majestätisch erhebt sich der Drachenfels über dem winzigen Fachwerkhaus im Bad Honnefer Stadtteil Rhöndorf. Grüne Fensterläden. Bunte Blumenkästen. Rheinromantik. Ein schmaler Fußweg führt am idyllischen Innenhof vorbei zum Adenauer-Haus. Früher spazierte der Kanzler jeden Tag hier vorbei. Eine malerische Kulisse für ein geheimes Politbüro. „Das war unsere konspirative Wohnung“, sagt Dirk Koch mit einem verschmitzten Lächeln.“ Die perfekte Tarnung für exklusive Treffen der „Spiegel“-Redaktion mit der Politelite der Bonner Republik.

Koch leitet von 1970 bis 1997 das Hauptstadtbüro des Hamburger Magazins in der Bonner Dahlmannstraße. Nur 200 Meter vom Kanzleramt entfernt. Auch der „Lange Eugen“ mit den Abgeordnetenbüros und das Parlament liegen quasi um die Ecke. „Alles fußläufig zu erreichen“, erinnert sich Koch. Und nicht zu vergessen: die Bundestagskantine. Eine schier unerschöpfliche Informationsquelle für Journalisten. „Das war einer unserer bevorzugten Rechercheorte“, sagt Koch und grinst. „Und sicher auch für die Geheimdienste.“ Vor allem bei steigendem Alkoholpegel lösen sich die Zungen der Politiker. Und in Bonn wird viel getrunken. Auf beiden Seiten. „Da brauchte man eisernes Gedärm“, scherzt Koch. Auch sein legendärer Verleger gilt als ausgesprochen trinkfest. „Rudolf Augstein soff wie ein Loch“, erinnert sich Koch.

Das Regierungsviertel ist ein Dorf. Journalisten und Politiker laufen sich praktisch ständig über den Weg. Aber das hat auch Nachteile. „Da konnte jeder sehen, wer bei uns rein und wieder rausging“, sagt Koch. Geheimhaltung fällt da recht schwer. „Zu unseren Methoden gehörte aber immer auch das persönliche Gespräch.“ Also weicht Koch ins nahe Bad Honnef aus, wenn er sich hinter verschlossenen Türen mit Spitzenpolitikern treffen will. Die schmale Straße, die sich durchs enge Tal windet, ist unauffällig. Und gut zu sichern. Denn die Politelite kommt mit Leibwächtern und Polizisten zu Kochs kleinem Häuschen in Rhöndorf. Dann wird im Sommer schon mal ein Feuerchen im Innenhof entfacht. Dazu werden Kaltgetränke gereicht. Eine entspannte Atmosphäre.

Es ist die Hochzeit des RAF-Terrors. „Die Politiker hatten alle Angst“, erinnert sich der Journalist. „Deshalb hatten sie sich schwer bewaffnet.“ Besonders gut kann sich Koch an den Hardliner Alfred Dregger erinnern. Der Unionsfraktionschef geht selten ohne Walther PPK aus dem Haus. „Die legte er dann bei seinen Besuchen immer direkt auf den Tisch“, sagt Koch. Ein skurriles Szenario. „Der Hauptmann der Wehrmacht hat kundig die schussbereite Pistole entladen, das Magazin entnommen und die Patrone aus dem Lauf repetiert.“ Dazu prasselt dann das Kaminfeuer.

Heiner Geisler (CDU) bevorzugt einen großkalibrigen Trommelrevolver von Smith & Wesson. „So war der Heiner“, erzählt der Ex-“Spiegel“-Redakteur. „Er sagte immer: Lebend kriegen die mich nicht.“ Ganz so friedensbewegt war der Ex-Generalsekretär der CDU dann wohl doch nicht. Aber das Waffenarsenal lässt sich noch steigern. „Franz-Josef Strauß war der Schärfste von allen“, erinnert sich Koch. Auch er ist in Rhöndorf zu Gast. „Strauß trug immer eine abgesägte Schrotflinte mit sich.“ Eine Lupara. Zu deutsch Wolfstöter. „Das Arbeitsgerät der Mafia“, betont Koch. Kein Wunder, dass die Leibwächter oft mehr Angst vor den bewaffneten Politikern als vor RAF-Terroristen gehabt haben sollen. Zumal dann, wenn sie betrunken waren. „Und der Strauß hat schon ein paar Fässer geleert.“

Es sind verrückte Zeiten. Koch selbst wird sogar mal von der Eliteeinheit GSG9 eingeladen, um den Kellerkampf zu trainieren. „Da klappten dann immer Pappkameraden auf, auf die man schießen musste“, sagt er kopfschüttelnd. Das fällt dem Jäger nicht sonderlich schwer. Aber jetzt lernt er auch, wie man am besten Molotowcoctails herstellt. „Deren Tipp war Bohnerwachs“, sagt Koch und schmunzelt.

In dem unscheinbaren Fachwerkhaus zu Füßen des Drachenfelses wird mitunter sogar Geschichte geschrieben. Zumindest fast. „Bei uns wurde der Sturz von Kanzler Helmut Kohl geplant“, betont Koch. In Rhöndorf sitzen die Verschwörer um Heiner Geißler zusammen. Und die „Spiegel“-Redakteure hören mit. Aber es gibt klare Regeln. „Das gesprochene Wort verlässt nicht diesen Raum“, erklärt Koch. Zumindest nicht unautorisiert. „Am Ende hat Kohl nur die Wende gerettet.“

Der Informationsaustausch geht dabei in beide Richtungen. „Wir wussten oft mehr als die Politiker“, sagt Koch. „Genscher etwa hat ganz große Ohren gemacht.“ Was dem FDP-Chef nicht sonderlich schwer fällt.

Und dann gibt es noch eine kuriose Anekdote, die sich unter dem Dach des Fachwerkhauses abgespielt hat. An einem Abend ist Julius Steiner in Rhöndorf zu Gast. Der Name ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Doch der Unionspolitiker ist der Mann, der das Misstrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt 1972 platzen lässt, indem er gegen seinen Parteifreund Rainer Barzel stimmt. Er ist von der Stasi mit 50000 Mark geschmiert worden. Und das räumt er unter dem Eindruck von reichlich Hochprozentigem auch gegenüber den „Spiegel“-Redakteuren ein.

Doch es kommt zu einem pikanten Zwischenfall. „Der soff alles durcheinander“, erinnert sich Koch. Vor allem Cognac und Rotwein scheinen eine unheilvolle Allianz eingegangen zu sein. Denn plötzlich kippt der Informant um. „Der machte keinen Mucks mehr“, sagt Koch. „Das Gesicht war grau, blau, rötlich, weiß.“ Sorgen machen sich breit. „Wir dachten, der ist tot.“ Eine höchst kompromittierende Situation. Ist der Politiker etwa gerade unter den Händen von „Spiegel“-Redakteuren gestorben? Zum Glück nicht. „Gegen Mitternacht schlug er die Augen auf und fragte: Kann ich noch einen Cognac haben?“ Nur eine von vielen irren Geschichten, die Koch in seinem Buch „Der ambulante Schlachthof. Die letzten Geheimnisse der Bundesrepublik“ zusammengetragen hat.

Rhöndorfer Kamingespräche: Hans-Dietrich Genscher zu Gast beim Bonner„Spiegel“-Chef Dirk Koch (rechts). Der Minister ist einer von vielen Spitzenpolitikern, die sich am Fuße des Drachenfels mit den Journalisten des Hamburger Magazins austauschen. Foto: Dirk Koch
Rhöndorfer Kamingespräche: Hans-Dietrich Genscher zu Gast beim Bonner„Spiegel“-Chef Dirk Koch (rechts). Der Minister ist einer von vielen Spitzenpolitikern, die sich am Fuße des Drachenfels mit den Journalisten des Hamburger Magazins austauschen. Foto: Dirk Koch

Dirk Koch liegt der Journalismus im Blut. Die halbe Familie ist im Mediengeschäft tätig. Mit großem Erfolg. Ein Bruder ist Chefredakteur des „Stern“, bis er über den Skandal mit den „Hitler-Tagebüchern“ stolpert. Ein anderer Bruder bringt es bis zum Chefreporter der „Bild“-Zeitung. Dirk Kochs Karriere beginnt in Bonn. „Als Zeilenschinder beim Generalanzeiger“, sagt er und grinst. Als er Bonner Bürochef beim „Spiegel“ wird, ist er gerade mal Ende 20. In der Dahlmannstraße leitet er die Parlamentsredaktion mit rund 20 Mitarbeitern. Es sind die goldenen Zeiten der Verlage. „Ich hatte sogar noch einen Fahrer“, erinnert er sich.

Der junge Koch führt einen neuen Führungsstil ein. Setzt auf Kooperation unter den Redakteuren. Und er spinnt ein enges Netz an Kontakten. „Wir hatten überall unsere Leute“, sagt er. In dem Fall kommen dem „Spiegel“ die kurzen Wege in Bonn zugute. Einer von Kochs Grundsätzen: „Vergesst die Frauen nicht“, erklärt er. Die der Politiker natürlich. Aber auch ihre Sekretärinnen. „Das waren hervorragende Quellen“, betont der Journalist. Dann gibt's auch mal Blumen und Champagner. Kleine Geschenke erhalten bekanntlich die Freundschaft. „Aber bestochen haben wir nie.“ Das ist Koch wichtig. Und: „Alle Recherchen waren minutiös geplant.“

Dabei gelingen Kochs Team spektakuläre Enthüllungen. Den spektakulärsten Coup landet der „Spiegel“, als er den Flick-Skandal aufdeckt. „Die ersten Dokumente wurden mir in der Tiefgarage unter der Kölner Domplatte zugesteckt“. erinnert sich Koch. Hochexplosives Material, das die Bonner Republik in ihren Grundfesten erschüttern wird. Denn es offenbart, dass fast die komplette Politelite durch und durch korrupt ist. Quer durch alle Parteien halten die Mächtigen beim Flick-Konzern die Hände auf.

Allen voran Kanzler Helmut Kohl (CDU) und CSU-Chef Franz-Josef Strauß. Aber auch Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorf (FDP). Was damals niemand ahnt: Der Flick-Mitarbeiter Adolf Kanter aus Andernach leitet die hochbrisanten Informationen nach Ost-Berlin weiter und macht Bonn damit erpressbar. Koch wird dieses dunkle Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte später in seinem Buch „Der Schützling“ verarbeiten.

In dem kleinen Fachwerkhaus arbeitet Koch auch als Herausgeber an dem Buch „Der Vertrag“ mit, in dem der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) seinen Beitrag zur Deutschen Einheit beschreibt. „Er hasste Kohl mit Inbrunst“, erinnert sich Koch. Denn der reklamiert die Lorbeeren der Einheit allein für sich. Zudem ist Schäuble nach dem Attentat auf ihn 1990 tief traumatisiert. Wegen der Schussverletzung im Gesicht fällt ihm das Sprechen schwer. Koch erhält einen tiefen Blick in das Seelenleben des CDU-Politikers. Das Buch ist eines der letzten Werke, die in der konspirativen Wohnung in Rhöndorf entstehen. Mittlerweile ist das geheime Politbüro von einst eine normale Wohnung. Ob die neuen Mieter wissen, was sich in ihren vier Wänden abgespielt hat? Wohl eher nicht.

Mehr spannende Geschichten rund um die Bonner Republik hat der Autor Dirk Koch in seinem Buch „Der ambulante Schlachthof. Die letzten Geheimnisse der Bundesrepublik“ zusammengetragen, das 2016 im Frankfurter Westend-Verlag erschienen ist. 18 Euro. Dirk Eberz