Anzeige
Geboren an einem historischen Tag: Andernacherin erblickte mit dem Grundgesetz das Licht der Welt

Geboren an einem historischen Tag: Andernacherin erblickte mit dem Grundgesetz das Licht der Welt

75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Annemarie Weyer: Die Andernacherin teilt sich das Geburtsdatum mit der Bundesrepublik Deutschland. Ein guter Grund für ein Gespräch mit unserer Zeitung.

23.05.24
Geboren an einem historischen Tag: Andernacherin erblickte mit dem Grundgesetz das Licht der Welt

Grundgesetz, 75 Jahre Annemarie Weyer: Die Andernacherin teilt sich das Geburtsdatum mit der Bundesrepublik Deutschland. Ein schöner Grund für ein Gespräch mit unserer Zeitung. Foto Jens Weber

Der 23. Mai 1949 ist ein Tag für die Geschichtsbücher. Ein Montag. Dieser Tag bildet den Schlusspunkt monatelanger Gesprächsrunden, in denen 61 Männer und 4 Frauen des Parlamentarischen Rates über Gesetzestexte und Artikel verhandelt hatten, die der Nachkriegsgesellschaft ein neues, freiheitliches Wertesystem bescheren sollen: das Grundgesetz. Ratspräsident Konrad Adenauer unterzeichnet das Dokument als erster, es folgen die weiteren Mitglieder des Parlamentarischen Rates und die Ministerpräsidenten der von damals elf Bundesländern. Die Tinte besiegelt eine neue Ära, das Grundgesetz ist verkündet. Es ist die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Sie erblickt in Bonn am Rhein das Licht der Welt. 

Auch in Andernach wird Geschichte geschrieben - eine sehr persönliche

Einige Flusskilometer rheinaufwärts, in Andernach, wird am 23. Mai 1949 ebenfalls Geschichte geschrieben, wenn auch eine sehr persönliche. Dort beginnt ein Leben, wächst eine Familie: Die kleine Annemarie kommt zur Welt. Sie und die Bundesrepublik teilen sich dasselbe Geburtsdatum. Stets im gleichen Alter entwickeln sich beide auf ihre Weise. Das in den Nachkriegsjahren geborene Mädchen wächst zur selbstbewussten Frau heran. Die junge, noch versehrte Republik mausert sich durchs Wirtschaftswunder zur mächtigen Industrienation, zur stabilen Demokratie, zum wiedervereinten Deutschland, zu einer Stütze Europas. Jahrzehnt um Jahrzehnt prägt das Leben, prägt das Land. Und heute, heute wird beidseitig 75. Geburtstag gefeiert. 

Ein großes Thema will Annemarie – seit Jahren heißt sie Weyer – aus diesem 75. eigentlich gar nicht machen. Irgendetwas Schönes werden sie und ihr Mann sicherlich unternehmen, aber „im Grunde ist es ein Tag wie jeder andere, wie der davor und der danach“, sagt sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Es findet im Wintergarten des Hauses statt, mit freier Sicht auf den Garten, groß, gepflegt, mit mehreren Futterstellen für Vögel. „Ein Hobby meines Mannes“, meint Weyer, eine agile Frau mit dunklen, graumelierten kurzen Haaren und wachen Augen. Ihre 75 Jahre sieht man ihr nicht an. 

Als Schülerin vom besonderen Geburtstag erfahren

Annemarie Weyer lebt am Rande von Andernach, direkt hinterm Gartenzaun beginnen Felder. Ihrer Geburtsstadt ist sie stets treu geblieben. Das Elternhaus, in dem sie an jenem denkwürdigen Tag im Mai vor 75 Jahren geboren wurde, steht nicht allzu weit entfernt von ihrem heutigen Zuhause. Dass sie an einem besonderen Datum Geburtstag hat, erfuhr sie irgendwann in der Schule. „Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt“, erinnert sich Weyer. Ein Lehrer muss es damals im Unterricht erwähnt haben, dass sie und das Grundgesetz am selben Tag das Licht der Welt erblickten. „Und so richtig habe ich es damals ganz sicher auch nicht verstanden, was das überhaupt bedeutet, unser Grundgesetz.“ 

Eben, dass es Frieden und Freiheit sichert in Deutschland. Dass seine 146 Artikel dafür gedacht waren und sind, das Wertsystem für unsere Gesellschaft und ihr Zusammenleben zu definieren - und zwar so weitsichtig und umfänglich, dass sich das ursprünglich als Übergangslösung angelegte Grundgesetz letztlich als unsere Verfassung, als viel zitiertes Fundament der Freiheit zementierte: Nichts hält besser als ein Provisorium. Sofern es gepflegt wird und in Zeiten wie diesen, wenn antidemokratische Kräfte wieder spürbarer wirken, verteidigt wird. 

Ähnlich sieht es Annemarie Weyer. Sie bezeichnet sich zwar nicht als sonderlich politisch interessierten Menschen, auch wenn sie sich über tagesaktuelle Themen und Debatten informiert hält. Doch sie sorgt sich, wie unsere Gesellschaft verfasst ist. Nachvollziehen kann sie es nicht, dass „viele Menschen, die in einem so wohlhabenden Land wie unserem leben, denen es gutgeht und die sozial abgesichert sind, die zufrieden sein könnten, unser System und unsere Werte trotzdem infrage stellen. Oder Schlimmeres.“ Darüber macht sie sich Gedanken, vor allem, was da noch auf ihre Kinder und Enkeltöchter zukommen möge. „Manchmal denke ich, dass ich die besten Jahre Deutschlands miterleben durfte.“ 

Ein selbstbestimmtes Leben

Draußen vor den Fenstern des Wintergartens füllt ihr Mann Körner an den Futterstellen für Vögel nach, ein friedliches Bild. Da wollen sorgenvolle Gedanken eigentlich nicht passen. Also berichtet Weyer von ihrem Leben, das es meist gut mit ihr meinte. Ein stets selbstbestimmtes Leben, wie sie sagt. „Das war mir immer wichtig.“ Dass das Grundgesetz neben vielen Grundrechten, allen voran der unantastbaren Würde des Menschen, auch für die Gleichberechtigung von Mann und Frau die Basis gebildet hat und es heute noch tut – bewusst ist es der Andernacherin. Dass es viele Jahre brauchte, damit Mann und Frau auf Augenhöhe kommen, bis Frauen etwa ihr eigenes Konto führen oder ohne Erlaubnis ihres Mannes arbeiten gehen durften – all diese Kämpfe um Emanzipierung hat Weyer auf ihre Weise durchgefochten, auch wenn sie nicht aktivistisch engagiert war: Sie hat für sich stets beansprucht, komplett eigenständig zu sein und zu leben, erzählt sie. 

Vom ersten Mann ließ sie sich als junge Frau nach einem Ehejahr scheiden, den kleinen Sohn zog sie zunächst allein auf, war voll berufstätig. Usus war das nicht gerade in den 60er- und 70er-Jahren, im Gegenteil. „Ich habe 46 Jahre lang in einer Steuerberatungsgesellschaft gearbeitet“, erzählt sie. Bis zur Rente 2014. Ihrem Metier ist Weyer sozusagen jedoch auch im Ruhestand treu geblieben: Sie führt die Kasse in gleich zwei Vereinen: in der Nachbarschaftshilfe und im Andernacher Karnevalsverein Gerak. Im Förderverein der Christuskirche engagiert sie sich im Vorstand. Viele Stunden in der Woche sitzt sie nicht hier im lichten Wintergarten, sondern arbeitet drüben auf der anderen Seite des Hauses in ihrem Büro. Die Finanzen der Vereine hält sie am Computer zusammen – damit zu arbeiten: eine Selbstverständlichkeit für die 75-Jährige. 

Aktiv fürs Gemeinwohl

All die Zeit und die Arbeit stehen einem guten Gefühl gegenüber, beschreibt Weyer ihr ehrenamtliches Engagement. „Es macht mir Spaß, ich komme mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammen.“ Das ist die eine, die persönliche Ebene. Von einer anderen, gesellschaftlich betrachteten Ebene aus, bringt sich Annemarie Weyer für das Gemeinwohl ein, bürgerschaftliches Engagement gilt als Baustein einer lebendigen Demokratie wie unserer. Das Grundgesetz der Bundesrepublik lässt grüßen. 

Dass sich Weyer und unsere Verfassung dasselbe Geburtsdatum teilen, ist der Jubilarin übrigens nach damals zwar stets bewusst gewesen, eine sonderliche Bedeutung hat sie diesem „Zufall der Geschichte“ aber nie zugemessen. „Irgendwie war es normal für mich, dass ich immer genauso alt wie Deutschland bin“, sagt sie und lacht. Und doch war da lange dieser eine leise Gedanke: Sie hat sich viele Jahre gewünscht, dass der 23. Mai einmal den 17. Juni als Feiertag ablösen möge, an dem über Jahrzehnte hinweg der „Tag der deutschen Einheit“ begangen wurde, erzählt Weyer augenzwinkernd. „Dann hätte ich an meinem Geburtstag immer frei gehabt, das wäre auch schön gewesen.“ Anke Mersmann