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Gastbeitrag von Michael Hohlstein: 75 Jahre Grundgesetz und weiter?

Gastbeitrag von Michael Hohlstein: 75 Jahre Grundgesetz und weiter?

Gastbeitrag von Michael Hohlstein zum Problem der Ästhetisierung von Erinnerung: Vergangenheit als Zukunft durch gegenwärtige Erfahrbarkeit und Sichtbarkeit.

23.05.24
Gastbeitrag von Michael Hohlstein: 75 Jahre Grundgesetz und weiter?

Michael Hohlstein ist Dozent an der Universität Koblenz und schreibt in unserem Gastbeitrag über die Ästhetisierungsproblem des Erinnerns. Im großen Hörsaal hält er ein Exemplar des Grundgesetzes in der Hand - ein Original aus dem Jahr 1949. Foto: Jens Weber

Robert Alexy, von 1986 bis 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, eröffnete 2009 einen Vortrag anlässlich der 60-Jahrfeier des Grundgesetzes, den er den fragenden Titelzusatz 'Eine Erfolgsgeschichte?' gab, mit dem Hinweis auf die Dauer des Grundgesetzes. 15 Jahre später wird erneut auf eine andauernde Zeitlichkeit als Kriterium für den Erfolg jenes Textes verwiesen, der im Kontext der doppelten Staatsgründung in Deutschland nach 1945 entstand und – wie es seiner ursprünglichen Präambel zu entnehmen war – als provisorische Verfassung für die drei westlichen Besatzungszonen gedacht war, die sich nach der Empfehlung der Londoner Sechsmächtekonferenz 1948 mit der sich anschließenden Ausarbeitung des Grundgesetzes und seiner Verkündigung am 23. Mai 1949 als Bundesrepublik Deutschland konstituierten. Das Provisorium blieb. Es überdauerte auch die friedliche Revolution in der DDR und das Ende der sozialistischen Republik, die kurz nach der Bundesrepublik auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone gegründet worden war. Für den Fall der im Westen häufig beschworenen und zum Ende der deutschen Teilung hin nicht selten als rhetorische Pflicht in den politischen Debatten daherkommenden Forderung nach einer Einheit in Freiheit Deutschlands sollte das Grundgesetz einer neu auszuarbeitenden Verfassung für das vereinte Land weichen. Dies hatten jene 61 Männer gemeinsam mit vier Müttern des Grundgesetzes vorgesehen, die den Text nach den Vorarbeiten des Verfassungskonvents, der auf der Herreninsel im Chiemsee im August 1948 zusammengekommen war, im Parlamentarischen Rat unter der Präsidentschaft Konrad Adenauers in Bonn letztlich ausgearbeitet, unterzeichnet und öffentlich gemacht hatten. 

Weimarer Verfassung beinhaltete immensen Katalog an Grundrechten

Es kam anders. Seit dem 3. Oktober 1990, als das Gebiet der ehemaligen DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat, gilt das Grundgesetz für 'das gesamte deutsche Volk'. Zwar gab es während des Vereinigungsprozesses durchaus Überlegungen, eine neue Verfassung erarbeiten zu lassen. Letztlich aber überwogen rasch die Stimmen, die im Grundgesetz der Bonner Republik auch den Verfassungstext für die größere Bundesrepublik sahen, deren Hauptstadt nicht mehr am Rhein, sondern an der Spree liegt. Zum formalen Erfolgskriterium Zeit, wie Robert Alexy das Argument der Dauer bezeichnet hat, ließe sich also ein zweites Erfolgskriterium hinzufügen, das des Raumes. Der Geltungsbereich des Grundgesetzes vergrößerte sich mit dem 3. Oktober 1990. Und nicht nur das: Es überschritt diesen, wenn es zum Verfassungsvorbild einiger jüngerer Demokratien auf der Welt wurde, worauf der Staatsrechtler und ehemalige Bundestagsabgeordnete Rupert Scholz in einem Interview vom 30. Mai 2011 in der Wochenzeitschrift 'Das Parlament' anlässlich des 62. Jahrestages des Grundgesetzes ausdrücklich verwies. 

Robert Alexys Augenmerk galt vor allem den – wie er es nannte – materiellen Ursachen des grundgesetzlichen Erfolges. An den Anfang seiner Überlegungen stellte er den üblichen Vergleich zwischen der Verfassung der Weimarer Republik und jener der Bonner Republik. Ihre ideengeschichtlichen Bezüge ähneln sich. In beiden Texten finden sich Überlegungen, die in ihren Wertbezügen auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als auch den Liberalismus oder jenen Teilen der reformistischen Arbeiterbewegung, die einer ausgleichenden sozialen Gerechtigkeit das Wort redete, zurückzuführen sind. Es gibt aber auch weithin bekannte Unterschiede, etwa die herausgehobene Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Verfassung, die manchen nach dem Untergang des zweiten deutschen Kaiserreichs im November 1918 als ersatzmonarchisches Element der Verfassung gilt. Die Stellung des Bundespräsidenten ist dagegen im Grundgesetz zugunsten der Stärkung des parlamentarischen Elements deutlich zurückgenommen. An dieser Stelle könnte der Expertenstreit zwischen jenen ausgeführt werden, die die Weimarer Reichsverfassung als Grundlage ansehen, auf der das Grundgesetz fußt, und jenen, die der Ansicht sind, die Verfassung, die der parlamentarische Rat in Bonn vor nunmehr 75 Jahren fertigstellte, sei eine bewusste Absetzung von Weimar. Darauf kann aber verzichtet werden, um Antworten auf die Frage des Erfolgs des Grundgesetzes nicht aus dem Blick geraten zu lassen. Hierfür muss gleichwohl der Vergleich noch weiter bemüht werden. 

In der Weimarer Verfassung war ein immenser Katalog an Grundrechten festgeschrieben. Neben persönliche Freiheitsrechte traten Überlegungen des sozialen Ausgleichs. So sollte die Wirtschaft zuvorderst der sozialen Gerechtigkeit dienen. Nur: das Instrument einer Justiziabilität der Verfassung zu ihrem eigenen Schutz, das wurde in der Weimarer Nationalversammlung nicht formuliert. Das Bonner Grundgesetz führt ebenfalls einen Katalog an Grundrechten auf und formuliert ein Sozialstaatsprinzip. Und mehr: Sichtbar wird ein Rechtsstaat, der nicht nur seinen Bürgern ihre Rechte verbrieft, sondern der sich selbst in verfassungsschützendes Recht setzt. Gestalt hat dies in der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts gefunden. Über ein Äquivalent verfügte Weimar nicht. Eine Tatsache, die auch dazu beitrug, dass die von den Nationalsozialisten gefeierte Machtergreifung eher eine Machtübertragung im Rahmen der Verfassung war, die nach dem 30. Januar 1933 schutzlos den nationalsozialistischen Ermächtigungen gegenüberstand und in der Folge ihre Geltung verlor. Das Grundgesetz hingegen hat Teile seines positiven Rechts explizit von Veränderung ausgenommen. Die sogenannte Ewigkeitsklausel betrifft einerseits die föderale Struktur der Republik, zum anderen die in ihm formulierten staatsbürgerlichen Grundrechte. Hinzu kommt: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar'. Der Herrenchiemseer Verfassungskonvent hatte in seinem Entwurf einen anderen Satz an den Anfang gesetzt: 'Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates Willen.' Im Kern bedeutet es Gleiches, die Unantastbarkeit der Grundrechte als individuelle Freiheitsrechte. Über die Einhaltung der Garantien wacht das Bundesverfassungsgericht. Darauf beschränkt sich seine Aufgabe aber nicht. Davon zeugen mittlerweile mehr als 160 Bände, in denen nachgelesen werden kann, wie das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz im Lauf der Zeit ausgelegt hat. Auslegung bedeutet nicht weniger als je zeitgenössische Aneignung, mit der das Grundgesetz aktualisiert und fortentwickelt wurde und wird. Mit Blick darauf ist häufig von einer atmenden Verfassung gesprochen worden. Der Bielefelder Verfassungsrechtler Christoph Gusy, hat das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom Grundgesetz unlängst als 'living instrument' bezeichnet, womit verhindert worden sei, 'dass der Text von 1949 als Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart angesehen werden muss.' 

Die soziale Akzeptanz ist unverzichtbar

Die umfassende Kontroll- und Auslegungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts für und auf das Grundgesetz ist, so die opinio communis, in der Bewertung der Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland, wesentlich für ihre Stabilität. Unverzichtbar dafür ist aber die soziale Akzeptanz des verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmens. Darum war es anfangs nicht gut bestellt. Während der parlamentarische Rat tagte, fragte das junge Allensbacher Institut für Demoskopie nach dem Interesse für die zukünftige westdeutsche Verfassung. 21 Prozent der Befragten zeigten sich sehr interessiert. Sie waren eine Minderheit. Sechs Prozent waren unentschieden. 33 Prozent gaben zur Antwort, nur mäßig interessiert zu sein, während sich 40 Prozent 'gleichgültig' zeigten. Es dauerte, bis die Bürger eine Nähe zu ihrer Verfassung entwickelten. Ihre Sorgen galten zunächst dem Alltäglichen, dem Über- und Weiterleben angesichts der Zerstörungen und Verwüstungen durch den Krieg. Platz für Abstraktes in Form einer Verfassung, die in ihrer Praxis noch nicht erfahrbar sein konnte, war da kaum. Dafür brauchte es Zeit. 30 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes konstatierte Dolf Sternberger in der FAZ, dass die Verfassung aus der 'Verschattung' herausgetreten sei. Mehr noch: Sternberger formulierte die Vorstellung von einem Verfassungspatriotismus, der sich einer lebenden Verfassung verdankt, 'an der wir täglich mitwirken'. 

Folgt man Sternbergers Beobachtung, stellt sich unweigerlich die Frage: Was war zwischen 1949 und 1979 passiert, damit Verfassung und Vaterlandsliebe so aufeinander bezogen werden konnten? Die zur Beantwortung der Frage zu Rate zu ziehende einschlägige Literatur verweist auf – so weit ich den Diskurs überblicke – letztlich drei Sachverhalte. Zum einen das Erfahren der Funktionalität der Verfassung, nicht zuletzt das gesellschaftlich produktive Agieren des Bundesverfassungsgerichts, das das sozial-integrative Potenzial des Grundgesetzes unterstrich. Hinzu kam ein rascher Wohlstandsgewinn, der angesichts der totalen Niederlage nicht erwartbar war. Das Wirtschaftswunder hatte Gründe, die nicht wundersam waren. Für viele war es aber nach der Katastrophe, die erst später als Befreiung formuliert wurde, schlicht: ein Wunder. Dem neuen Staat in seiner Verfassung war dies zweifellos in seiner Akzeptanz nicht abträglich. Zugleich stand mit dem politischen Modell einer sozialistischen Gesellschaft ein Alternativsystem zum Vergleich, das diesen in den Augen der bürgerlichen Mehrheit nicht zu seinen Gunsten entschied. Individuelle grundrechtliche Freiheiten und allgemeiner Wohlstand mit sozialem Augenmaß wurden mit dem Grundgesetz verbunden, die Alternative stand für wenig attraktive kollektive Einbindung und materielle Knappheit. 

Die Sichtbarkeit der Verfassung war eingeschränkt. Dies begann schon während der Vorbereitungen für die Verfassung. Der Publizist Walter Dirks bemerkte in den Frankfurter Heften bereits im Juli 1946, die 'Stille', in der 'völlig ungestört von den Staatsbürgern, der Presse, der öffentlichen Meinung' an Verfassungen gearbeitet würde. Protagonisten des parlamentarischen Rats bestätigten die Beobachtungen von Dirks, verwiesen aber auf die Notwendigkeit einer Unöffentlichkeit zum Gelingen des Verfassungstextes. Später wurde das Gedenken an die Verfassung aus dem Mai 1949 in unterschiedlichen Formen öffentlich geübt. Prominenter als der 23. Mai waren aber andere Tage des Gedenkens. In der alten Bundesrepublik war der 17. Juni der Tag der deutschen Einheit; jener Tag, an dem den Aufständen in der DDR gedacht wurden, die sich im Frühjahr 1953 an Kontroversen um Arbeitsvorgaben entzündeten, später aber auch die politische Systemfrage stellten. Heute ist es der 3. Oktober, jener Tag, an dem die deutsche Vereinigung rechtlich vollzogen wurde. Damit wird am 3. Oktober auch dem Grundgesetz gedacht, ohne dabei in der Verrichtung des Gedenkens exklusiv zu sein. Es überwiegen die Bilder der Freude auf dem Weg von den Protesten der Bürger der DDR, über den Fall der Mauer bis hin zur Vereinigung Deutschlands. Gesichter haben und geben Profil. Die kollektive, identitätsstiftende Ästhetisierung eines Textes fällt hingegen ungleich schwerer. Es gibt Stimmen, die geltend machen, dass in der Bonner Republik die Verfassung symbolisch das nach 1945 entstandene Vakuum eines Identifikationsangebots gefüllt habe. Darüber ließe sich streiten, zumindest, wenn man die verfassungsexternen Komponenten einer Bejahung der staatlichen Ordnung berücksichtigt.

Auch in Andernach wird Geschichte geschrieben - eine sehr persönliche

Am 24. Mai 2023 brachte die Bundestagsfraktion der CDU/CSU einen Antrag in den deutschen Bundestag ein, mit dem sie „Verfassung und Patriotismus als verbindendes Band“ stärken möchte. Hierfür soll der 23. Mai als jährlich zu begehender Gedenktag aufgewertet werden. Der Antrag, der auch den 3. Oktober als Gedenktag thematisiert, formuliert ein „Bundesprogramm Patriotismus“. Mit Blick auf die früheren Debatten um die Verfassung als integratives und identitätsstiftendes der bundesrepublikanischen Gesellschaft ließe sich sagen, weniger Habermas, mehr Sternberger, ja wohl auch mehr Sternberger, als es der Politikwissenschaftler 1979 zu formulieren beabsichtigte. 

Wie soll das Grundgesetz erinnert werden? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort zwischen den Sinnangeboten nationaler Symbolik oder seiner Profilierung mit den Gesichtern einer couragierten, offenen, die Würde des Menschen achtenden Zivilgesellschaft. Es muss auch nicht eindeutig beantwortet werden. Aber: Es muss über das Wie ebenso wie über das Was des Erinnerns öffentlich diskutiert werden. Erinnern macht Vergangenheit als Geschichte gegenwärtig und bietet Orientierungen für die Zukunft. Es bedarf einer Erinnerungspraxis, die das Grundgesetz nicht als historisches Monument darstellt, sondern in seiner geschichtlichen Aktualität und Zukünftigkeit sichtbar werden lässt. Eine erinnerungskulturelle Praxis, die in den Verhandlungen über sie lebendig bleibt, stünde dem Grundgesetz als atmender Verfassung gut zu Gesicht. Zweifellos: Die erinnernde Ästhetisierung eines Textes, der integrative und identitäts- und orientierungsstiftende Funktionen zukommen soll, fordert heraus. Es lohnt aber, sich um es zu bemühen. Michael Hohlstein