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146 Artikel auf Büttenpapier - zum Wohle des deutschen Volkes

146 Artikel auf Büttenpapier - zum Wohle des deutschen Volkes

Die Urschrift des Grundgesetzes wird nur sehr selten, zu höchst ausgesuchten Anlässen und nur für einen exquisiten Personenkreis aus dem Tresor geholt. Nun wird das Original aus Bonn 75 Jahre alt

23.05.24
146 Artikel auf Büttenpapier - zum Wohle des deutschen Volkes

Angela Merkel schwört 2005 bei ihrer Ernennung zur Bundeskanzlerin auf das Grundgesetz. Sie sieht allerdings nicht das Original vor sich. Die Urschrift liegt gut verschlossen in einem Tresor im Bundestag. Foto: dpa

Dieser Band ist ein Werk. Ein Leitfaden für die Nation. Es gibt ihn nur einmal. Ein Unikat, genannt: die Urschrift. Sie liegt geschützt in einem Tresor im Bundestag, aus Sicht von Konservatoren mittlerweile umgeben von der idealen Raumtemperatur. Sein heutiger Wert: unschätzbar – ideell, politisch, moralisch, finanziell. 1396 Gramm schwer, der Holzdeckel auf der Frontseite eingebunden in Ziegenleder, hellbeige gemasert, 35 Zentimeter hoch, 24 Zentimeter breit. Die Inhaltsseiten mit Präambel und den 146 Artikeln – wie auch die 16 leeren Seiten für mögliche Änderungen und Ergänzungen – sind gedruckt auf handgeschöpftem Büttenpapier, garantiert säurefrei, damit das Papier möglichst lange hält. 

Die Verfassung der USA, verabschiedet 1787, existiert als Schriftrolle aus Leder bereits seit bald 240 Jahren. So alt muss jene Urschrift, die dem Zusammenleben der Menschen in Deutschland einen festen Rahmen zur Orientierung geben soll, erst einmal werden. Sie feiert am 23. Mai ihren 75. Geburtstag. Als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz feierlich in Bonn verkündet wurde, galt dies als Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Denn kein Staat ohne Verfassung. Die Verfassung der Deutschen nannte sich Grundgesetz, zunächst gedacht als Provisorium. Mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten ist aus dem Grundgesetz eine deutsche Dauereinrichtung geworden. Dabei war in der Vergangenheit oft darüber diskutiert worden. Wieviel Verfassung steckt im deutschen Grundgesetz? „Das Grundgesetz ist unsere Verfassung“, sagt Michael F. Feldkamp, Historiker des Bundestages. Ein simpler Satz. Und wahr. 

Zum Jahrestag seiner Ausrufung vor 75 Jahren in Bonn wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Stärken und Vorzüge des Grundgesetzes wieder hervorheben. Ende Februar erst hatte der erste Mann im Staate bei einer Veranstaltung in Schloss Bellevue, seinem Berliner Amtssitz, zum bevorstehenden Geburtstag „unserer Verfassung“ auch laut darüber nachgedacht, wie die Demokratie und auch das Bundesverfassungsgericht als höchstes deutsches Gericht gegen Demokratiefeinde „wetterfest“ gemacht werden könne, etwa dadurch, dass „Regelungen für die Struktur des Gerichts, das Wahlverfahren und die Amtszeiten der Verfassungsrichter ins Grundgesetz“ aufgenommen würden. Solche Regelungen könnten dann nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit verändert beziehungsweise gekippt werden. 

Das Grundgesetz hat Gewicht – für 84 Millionen Menschen, die in diesem Land leben. Und wiegt doch beinahe nichts. 1,4 Kilogramm wiegt die Urschrift – mit wegweisenden Artikeln über Föderalismus, Verteidigung, Amtshilfe, Gesetzgebungskompetenz, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und, ja, die Würde des Menschen. Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Fast jede Bürgerin und jeder Bürger dürfte diesen Satz schon einmal gehört haben. Für Historiker Feldkamp ist er ein Alleinstellungsmerkmal des Grundgesetzes. „Keine andere Verfassung der Erde stellt in dieser Klarheit die Unantastbarkeit der Würde des Menschen heraus.“ Ein höchst wertvolles Werk aus der Feder der Mütter und Väter des Grundgesetzes, des Parlamentarischen Rates in Bonn. Es hält und gilt seit bald 75 Jahren. Für dessen Urschrift wurden seinerzeit 1885 Mark als Gesamtkosten für die Herstellung aufgerufen. Davon 420 Mark für Buchbindearbeiten und Pergament der Firma Zieher in Bonn, das Büttenpapier wiederum lieferte die Papierfabrik Renker in Zerkall im Kreis Düren. 

Wenn Ministerinnen oder Minister des Bundes ihren Amtseid nach Artikel 56 ablegen („Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden,…“), dann leisten sie diesen Schwur nicht auf die Urschrift, sondern ihnen wird ein Faksimile des Grundgesetzes vorgelegt. 

Das Privileg, den Amtseid auf die Urschrift abzulegen, ist zwei Amtsinhabern vorenthalten: Bundespräsident oder Bundespräsidentin, Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin. Nummer eins und Nummer drei in der protokollarischen Rangfolge des Staates. „Die Vereidigung des Bundeskanzlers ist die kürzeste Plenarsitzung in einer Wahlperiode“, sagt Parlamentshistoriker Feldkamp. Rund vier Minuten oder 240 Sekunden für die Eidesleistung – dann ist die politische Verantwortung für ein Land mit 84 Millionen Menschen für die Dauer einer Legislaturperiode geschworen. Die Urschrift darf dann wieder zurück in einen Tresor im Parlamentsarchiv, transportiert in einem feuersicheren und stoßfesten Koffer, wo sie seit April 2023 verschlossen liegt. 

Bis April 2023 war die Urschrift in einem Safe im Büro des Direktors des Deutschen Bundestages verwahrt. Aber nun soll das Ausnahme-Exemplar eben geschont werden – unter idealen Raumbedingungen. Diese allererste Ausfertigung des Grundgesetzes hat mittlerweile – trotz höchst seltener Verwendung – Gebrauchsspuren: Abrieb, angegriffene Ecken, Tintenflecke, durchgedrückte Tinte von Unterschriften, Kleberückstrände von Post-It-Zetteln und Rost. Rost? Ja, Rost von Büroklammern, am oberen Rand der Seiten 23 und 24 sichtbar, wo Bundestagsbedienstete mit Büroklammern (deswegen der Rost) die dort klein gedruckte Eidesformel in Artikel 56 noch einmal in größerer Schrift eingehängt hatten, damit Bundespräsident und Bundeskanzler(in) sie auch aus einem Meter Entfernung lesen und nachsprechen konnten. 

Hier also die Urschrift, dort zwei besondere Ausgaben von Nachprägungen, sogenannte Faksimiles. Nachbildung eins als privates Exemplar bekam Konrad Adenauer im August 1949, das nach Rhöndorf ging. Nachbildung zwei erhielt der Held der Luftbrücke, US-General Lucius D. Clay. Sie sollte mit Clay in die USA geflogen sein und dort heute in der „Library of Congress“ liegen. Dort, in der hochehrwürdigen Bücherei gibt es auch eine Signatur, die belegt, dass Faksimile zwei des Grundgesetzes dort auch einmal tatsächlich archiviert war, wie Bundestags-Historiker Feldkamp erzählt. 

Doch inzwischen ist sie verschwunden. Wie? Wohin? Vielleicht gar unter der Hand verkauft? Niemand weiß es. Einfach verschwunden. Die Urschrift, jene einzigartige Ausgabe des Grundgesetzes, so viel ist sicher, liegt im Tresor – und sie wird dieses Jahr rund um die Feiern zu 75 Jahren Grundgesetzes für die Öffentlichkeit im Reichstagsgebäude ausgestellt. Es ist nach 1969 überhaupt erst das zweite Mal, das die deutsche Öffentlichkeit diese Urschrift bestaunen kann, so Feldkamp. Bis dahin wird sie gesichert und stoßfest gelagert, unter bestmöglichem Klima für das Büttenpapier. Denn die 146 Artikel des Grundgesetzes sollen vor allem eines nicht: verwässern. Holger Möhle