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Der Sport - Politikum wider Willen

Der Sport - Politikum wider Willen

Von Bern 1954 bis Sommermärchen 2006: Wunder und Wundersames aus 75 Jahren

23.05.24
Der Sport - Politikum wider Willen

Deutschlandfahnen soweit das Auge reicht: Beim Sommermärchen 2006 feierten Hunderttausende, fernab von verkrampfter Nationalsymbolik, die deutsche Nationalmannschaft in Berlin. Foto: dpa

Es war im Jahr 1975, als der 2013 verstorbene Literaturhistoriker und Schriftsteller Walter Jens anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Deutschen Fußball-Bundes eine bemerkenswerte Festrede hielt. In der warnte Jens die Sportfunktionäre in Gänze davor, „nicht noch einmal die Stirn zu haben und zu behaupten, dass der Sport kein Politikum ist“. Nach dem Verständnis von Jens ist der Sport gerade dann ein Element der Politik, wenn er von der Politik und deren Versäumnissen ablenken soll.

Als habe er zu dem Zeitpunkt einen Blick in die Glaskugel geworfen, projizierte Jens seinerzeit ein Bild, welches über 30 Jahre später im Zusammenhang mit der Fußball-WM 2006 nach und nach für jeden erkennbar werden sollte. Noch heute sprechen wir vom Sommermärchen im Zusammenhang mit diesem Turnier und meinen einen unbeschwerten, heiteren Sommer, in dem sich eine deutsche (Fußball)-Nation so offen und tolerant präsentierte, wie es die Welt bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Das ist der gesamtgesellschaftliche Blick auf die Dinge. Längst wissen wir aber auch um die sportpolitische Komponente, die zumindest das Zeug dazu hatte und hat, das bunte Bild des Sommers 2006 im Nachhinein zu trüben. Dabei erwies sich nicht die große Weltpolitik als Störfaktor. Vielmehr hatten die von Vetternwirtschaft und Korruption geprägten internen Strukturen des Fußball-Weltverbands im Verbund mit dubiosen Machenschaften einiger WM-Organisatoren hierzulande eine Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland erst möglich gemacht.

Ein unverkrampfter Umgang mit nationaler Symbolik

Hat der schöne Schein, den dieser Fußballsommer ausgestrahlt hat, uns alle nur geblendet? War das Sommermärchen nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver für jene Mechanismen, die den kommerzialisierten Sport in diesen Tagen nur so funktionieren lassen? Nun, auch in diesem Fall gibt es sie nicht, die eine, alles erklärende oder eben verklärende Sicht auf die Dinge. Fakt ist: Die Alleinstellungsmerkmale dieses Sommers bleiben. Der allgemeine Stimmungsaufschwung im Land. Ein alle Bevölkerungsschichten durchmischender sympathischer Nationalismus, der ganz ohne chauvinistische Attitüde daherkam und den Fußball fast schon zum Kulturgut erhob. Der unverkrampfte Umgang mit nationaler Symbolik. Dazu das aufkeimende Interesse an der Kultur der anderen. Das machte die Welt und auch viele Deutsche staunen. Die Reputation Deutschlands hat all das zweifellos positiv beeinflusst.

Wenn sich viele eingedenk des vorherrschenden deutschen Skeptizismus diese erstaunliche Ansammlung an Positiverlebnissen bis heute nicht madigmachen lassen wollen, weil sie der Negativschlagzeilen überdrüssig und für jeden Lichtblick am Horizont dankbar sind, ist das allzu verständlich. Die Finanzkrise 2008, die Welle an Kriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Irak 2015 und ihre Folgen, die bis heute nachwirkenden Corona-Jahre und nicht zuletzt der die Bevölkerung auch finanziell viel abverlangende, notwendige Kampf gegen den Klimawandel haben das Land und seine Menschen seit 2006 in eine Sinnkrise gestürzt. Und jetzt soll auch noch alles schöne Vergangene kaputtgeredet werden? Für viele ist es unbegreiflich, warum einem Franz Beckenbauer wegen eines vermeintlich gekauften Turniers – nach ihrem Verständnis – medial so übel mitgespielt wurde. „Das machen doch alle so“ oder „so günstig ist noch keiner an eine Fußball-WM gekommen“ – oftmals gebrauchte Redewendungen als Ausdruck für Verharmlosung, für fehlendes Unrechtsbewusstsein. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Diese Fußball-WM 2006 mit all ihren Auswirkungen positiver und negativer Natur wird immer von zwei Seiten betrachtet werden können. Und das ist auch gut so. Denn eine einseitige Betrachtung würde nie die ganze Geschichte erzählen – und das Politikum ungerechtfertigt ausklammern. Nimmt man drei sportliche Großereignisse in den Blick, die der in diesem Jahr 75 Jahre jung werdenden Republik auch gesamtgesellschaftlich ihren Stempel aufgedrückt haben, so bleibt eigentlich nur ein unbeschwerter, von keinem Unbill belasteter Moment zurück. Ein Ereignis, das bis heute und selbst bei jenen, die damals noch nicht dabei waren, Gefühle wie Anerkennung, Respekt und uneingeschränkte Dankbarkeit hervorruft.

Der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in Bern war sportlich zweifellos wundersam – und für die vom Krieg gezeichnete, nach Orientierung suchende und nach Anerkennung lechzende deutsche Bevölkerung heilsam. Es war auch ein Titel für das Selbstwertgefühl und das Selbstverständnis einer ganzen Nation, die das Bedürfnis hatte, auch mal wieder ein bisschen stolz auf sich sein zu dürfen. Beim dritten großen sportlichen Ereignis in diesen 75 Jahren Bundesrepublik Deutschland geriet der Sport in nie da gewesener Art und Weise zur Projektionsfläche für den internationalen Terrorismus.

Als die Welt 1972 auf Olympia in München blickte, wussten palästinensische Terroristen um die Aufmerksamkeit, die ihnen beim Angriff auf das israelische Quartier am frühen Morgen des 5. September zuteilwurde. Aus Spielen des Friedens wurde ein Blutbad, elf israelische Sportler und ein deutscher Polizist kamen ums Leben. Auf deutschem Boden. 27 Jahre nach dem Ende des Holocausts. Just zu dem Zeitpunkt, an dem die noch junge Republik demonstrieren wollte, wie liberal und modern sie geworden ist. Dann kam der 5. September. Und der Sport geriet zum ultimativen Politikum.

Seitdem schwingt die Angst immer mit, wenn sportliche Großveranstaltungen anstehen. Der zum Glück fehlgeschlagene Versuch von Terroristen, beim Fußball-Länderspiel Frankreich gegen Deutschland am 13. November 2015 ins Stade de France in Paris einzudringen, um dort eine Bombe zu zünden, hat dieser Angst neue Nahrung gegeben. Die Organisatoren der Olympischen Spiele im Sommer in Paris sind gewarnt und gewappnet. Uefa-Präsident Aleksander Ceferin hat die Sicherheit während der anstehenden Fußball-EM in Deutschland als große Herausforderung bezeichnet. Abseits einer möglichen terroristischen Bedrohung hoffen hierzulande viele Menschen bei der EM auf ein Sommermärchen 2.0. Ist das wahrscheinlich?

Für Deutschland jubeln und feiern

Dazu müsste die deutsche Nationalmannschaft bei dem Turnier dort weitermachen, wo sie in den durchweg überzeugenden Testspielen gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) aufgehört hat. Aber selbst ein sportlicher Höhenflug der „Nagelsmänner“ wäre noch kein Garant für unbeschwerte Sommertage im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold. Zu Erinnerung: 2006 erging aus Angst vor rassistischen Übergriffen vor der WM eine Reisewarnung insbesondere an dunkelhäutige Gäste. Motto: „Der ganze Osten ist gefährlich“. Und heute? Im Herbst könnten Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen die politische Landschaft in Deutschland merklich verändern. In allen drei Bundesländern ist die rechtsextreme AfD aktuell stärkste Partei – in Thüringen mit dem Nazi Björn Höcke an der Spitze.

Nicht schwer vorstellbar, wie gerade die AfD sich daran macht, einen sich erneut bahnbrechenden Nationalstolz mit Deutschland-Fahnen an den Balkonen und Fähnchen an den Autos für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die EM ist im Juni/Juli, alle drei Landtagswahlen sind im September. Sport und Politik liegen somit nicht nur zeitlich nah beieinander. Für Deutschland jubeln und feiern, ohne dabei in den Verdacht zu geraten, die Farben Schwarz-Rot-Gold ins Braune changieren zu lassen, das könnte im Sommer Volkssport in dieser Republik werden. Klaus Reimann