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Aus Trümmern zum Meisterwerk

Aus Trümmern zum Meisterwerk

75 Jahre Grundgesetz: Die beste Verfassung, die wir bis heute nicht haben - und das ist gut so

23.05.24
Aus Trümmern zum Meisterwerk

Das Grundgesetz, seit 75 Jahren eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Foto: Christin Klose

Grundgesetz. Das klingt so ... ja wie eigentlich? Beim Umgang mit dem Dokument, das bewusst nicht „Verfassung“ heißt und doch seit 75 Jahren diesen Rang einnimmt, sind Vorsicht und Respekt geboten. 

Grundgesetz - Juristen und klassisch Gebildete leiten die Bedeutung aus dem Lateinischen ab. Das „lex fundamentalis“, das „grundlegende Gesetz“, ist das, was einem Staat seine Basis verleiht. Das trifft wohl auch im Fall der Bundesrepublik Deutschland definitiv zu. Auf den Trümmern des Dritten Reiches verständigten sich die Mütter und Väter des neuen, im Werden begriffenen deutschen Staates unter anderem in Koblenz auf Dokumente, ohne die dieser neue Staat niemals ein Fundament bekommen hätte. 

Aber im Begriff des Grundgesetzes stecken noch weitere Deutungsmöglichkeiten. Wir Deutschen nehmen ja zum Beispiel gern für uns in Anspruch, besonders gründlich zu sein. Um so mehr verwundert es zunächst, dass das Grundgesetz im Vergleich zu anderen Erzeugnissen des parlamentarischen Betriebes vom Umfang her doch eher überschaubar ist. Das aber rührte nicht daher, dass sich seine Verfasserinnen und Verfasser nicht die nötige Mühe gegeben hätten. Im Gegenteil: Die Gründlichkeit steckt in den Formulierungen des Textes, nicht in seiner Länge. 

Die 146 Artikel sind ein Meisterwerk an präziser Sprache. Nur so konnten sie auch ihrem Anspruch gerecht werden. Auf diesem Fundament konnte nach 1949 das Bundesverfassungsgericht mit der Auslegung des Werkes beginnen und auf diese Weise Rechtsnormen setzen, die dem jungen Staat schon bald die dringend benötigte innere Festigkeit verliehen und bis heute verleihen. 

Eine Betrachtung, die zu einer weiteren Deutungsmöglichkeit des Wortes „Grundgesetz“ führt. Es ist seit seiner Annahme durch den Parlamentarischen Rat der drei westlichen Besatzungszonen der Grund dafür, dass es uns bis heute sowohl im historischen als auch im globalen Kontext so gut geht. Vieles, was alle deutschen Vorgängerstaaten der Bundesrepublik nicht regeln konnten, nicht hatten regeln wollen oder leider auch aufs Übelste missachtet hatten, wurde nun Grund, Gesetz, Fundament. 

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Asylrecht, Sozialstaatsgebot, Tarifautonomie, Gleichberechtigung, Berufsfreiheit und vieles mehr – alles begann im Mai 1949. Nicht alles war von Anfang an fertig. Manches war noch nicht einmal begonnen, konnte aber später aus Gehalt und Geist der bereits vorhandenen Texte abgeleitet werden. Und manches ist, wenn man ehrlich ist, bis heute noch nicht vollkommen, etwa die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Das aber liegt im Zweifel weniger am Grundgesetz selbst als an der nachgelagert vorzunehmenden allgemeinen Gesetzgebung und der politischen Willensbildung, auf der sie fußt - oder eben nicht. Weil der Wille lange gefehlt hat oder bis heute fehlt. 

Chefredakteur Lars Hennemann
Chefredakteur Lars Hennemann

Gegen das Grundgesetz spricht das nicht. Im Gegenteil: Der Diskurs, in dem eine freie Gesellschaft Dinge miteinander abmachen kann, ist durch es unverrückbar geprägt worden. Im Laufe der Jahrzehnte hat das Fundament, der Grund unseres Staates so manche Bewährungsprobe bestanden. Dazu zählen etwa die Notstandsgesetzgebung der 60er Jahre oder der RAF-Terror der 70er. Und auch heute, leider ganz aktuell, wirken in unserem Staat Kräfte, die lieber heute als morgen zentrale Bausteine des Grundgesetzes außer Kraft setzen wollen und sie deshalb in aller Offenheit mit Füßen treten. Unterstützt und befeuert von ihren diktatorischen Vorbildern, ob diese nun in Moskau, Peking oder Teheran sitzen. Oder im ach so feinen Golf-Club von Mar-a-Lago. 

75 Jahre sind eine lange Zeit. Das Grundgesetz und das, was es möglich gemacht hat, ist bis heute eine absolute Erfolgsgeschichte. Wir müssen deshalb nicht hochmütig werden. Dazu besteht im politischen Alltag nie Anlass. Aber ein klein wenig stolz, das dürfen wir schon sein. Und wem das zu pathetisch ist, dem – und allen anderen – sei ausdrücklich Wachsamkeit ans Herz gelegt. Auch die größte Erfolgsgeschichte bleibt nur so lange eine, wie sie als solche wahrgenommen wird. In dem Moment, in dem sie als selbstverständlich erscheint, ist sie sofort bedroht und wird zur Angriffsfläche der Feinde individueller und gesellschaftlicher Freiheit. 

Den im wörtlichen und übertragenen Sinn größten Beweis seiner Wirkmacht erfuhr das Grundgesetz in der Vollendung der deutschen Einheit. Die seit 1949 immer vorgehaltene Möglichkeit der Wiedervereinigung war Realität geworden, das Gesetz verlor seinen „vorläufigen“ Charakter. Ansonsten erfuhr es nur relativ geringfügige Änderungen. Was nicht nur in den neuen Ländern, aber insbesondere dort durchaus Kritik hervorrief, etwa bei der Frage nach Volksabstimmungen. 

Auch wurde durch die von 11 auf 16 gewachsene Anzahl der Länder nochmals deutlich, dass das Grundgesetz keineswegs perfekt, oder – um es milder zu formulieren – einfach in der Handhabe ist. Schon seine Verabschiedung im Jahr 1949 war an einer Stelle ein Kraftakt gewesen, und zwar bei der Klärung der (Macht-)Frage zwischen der Bundesregierung und den Ländern. Der Föderalismus, der die Bundesrepublik prägte und prägt, ist im Grundgesetz sehr sorgsam ausbalanciert. 

Den Bayern reichte das seinerzeit dennoch nicht, sie stimmten als einzige 1949 gegen die Verabschiedung des Werks. Was heute folkloristisch anmuten mag, verwies bereits damals auf eine Sollbruchstelle: Das Austarieren von Interessen der Länder gegen eine Zentralregierung ist das eine. Schließlich hatte man nach dem Ersten Weltkrieg zu schlechte Erfahrungen mit der nicht eingehegten und irgendwann auch nicht mehr einhegbaren Zentralgewalt gemacht. Das andere aber ist der Keim dessen, was heute als typisch deutsche Blockadepolitik und Reformunfähigkeit angesehen wird. Auch er wurde – über die Einflussmöglichkeiten des Bundesrates – im Grundgesetz gelegt. 

Gemessen an den unstrittig positiven Effekten, die das Grundgesetz seit 75 Jahren ermöglicht hat, muss man diese Kritik zwar ernst nehmen, aber auch nicht übertreiben. Nichts im Leben ist perfekt, die Politik schon gar nicht. Sie sucht Kompromisse und gründet auf ihnen. Solange diese nicht wirklich faul sind, kann man mit ihnen leben. Wirtschaftlich allemal, das Wohlstandswunder der Nachkriegszeit wäre ohne den Rahmen der Verfassung, die so nicht heißen sollte, undenkbar gewesen. Und wem das alles trotzdem nicht gut genug ist, der kann sich politisch engagieren und versuchen, das Grundgesetz fortschreiben zu lassen. Frei, ungehindert und ohne Angst vor Strafe. Zumindest so lange, bis man sich nicht unter die Extremisten einreiht, die zwar „Vaterland“ rufen, aber in Wahrheit vaterlandslose Gesellinnen und Gesellen sind. 

Seit 75 Jahren schützt uns das Grundgesetz auch und gerade gegen sie. Kein anderes Fundament eines freien Deutschland hat sich jemals so lange als so stabil erwiesen. Das gilt es zu feiern. Mit der besten aller Feststellungen, die man an den Schluss eines solchen Textes packen kann. Sie stammt aus dem Grundgesetz selbst, aus Artikel 146. Er regelt, wie lange es gilt: So lange, bis das deutsche Volk sich eine neue Verfassung gibt. Aber das braucht es nicht. Es hat doch das Grundgesetz. Lars Hennemann